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Vierteljahreshefte für die Erneuerung und Einheit der Kirche

1-2021 | Nacht

Inhalt

 Zur Einführung
2Roger Mielke: Nacht
  
 Essays
5Ulrich Koring: Die Nacht im Bildschaffen Helmuth Uhrigs
22Ralf-Dieter Gregorius: Licht in der Nacht
28Michael M. Schönberg: »Hüter, ist die Nacht bald hin?«
40Karin Marie Lilie: Die Nacht
45Hartmut Löwe: Mein Glaube
52Ingrid Behrendt-Fuchs: Nacht in der Telefonseelsorge
64Ingrid Vogel: Pfingstgebetsnacht – Beten in ökumenischer Weite und diakonischer Verantwortung
73Peter Buchner: Nachtwache
84Regina Bailer: Literarische Perlen zur Nacht
  
 Stimmen der Väter und Mütter
95Heiko Wulfert: Die Nacht in Quellen der neuzeitlichen Kirchengeschichte
  
 Miszellen
106Ernst Hofhansl: »Wenn jetzt es um uns dunkelt …«
112Simon Beckert: Nachtwache als Leitbild für Soldaten
117Joachim Januschek: Gedanken zu Psalm 139
  
 Corona
122Gérard Siegwalt: Neugründung
  
 Rezensionen
128Hermann Michael Niemann: Reinhard Feldmeier, Hermann Spieckermann, Menschwerdung.
133Christian Willm Rasch: Victor vom Hoff, Osternachtfeiern als liturgisches Ritual.
136Martin Söffing: Luca Baschera, Hinkehr zu Gott.
 »Buße« im evangelisch-reformierten Gottesdienst
  
139     Adressen
  
140   Impressum

Nacht.

von Roger Mielke

Foto: Rolf Gerlach

Und es war Nacht.
Johannes 13,30

Und er kam zu seinen Jüngern und fand sie schlafend und sprach zu Petrus: Konntet ihr denn nicht eine Stunde mit mir wachen? Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach.
Matthäus 26,40.41

die Schwärmerische, die Nacht kommt, Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns, Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen, Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.
Friedrich Hölderlin, Brod und Wein

Umfangreich ist dieses Heft, das die geneigten Leserinnen und Leser in der Karwoche erreichen soll, fast eine Doppelnummer. Das ist vielleicht auch Ergebnis einer, ja sagen wir ruhig: Klage des Schriftleiters, dass die Brüder und Schwestern der Berneuchener Gemeinschaften so arg zurückhaltend darin sind, »ihren« Quatember durch eigene Beiträge zu prägen. Für dieses Heft nun, mit dem Thema »Nacht«, war das ganz anders. Eine Fülle von Beiträgen wurde eingereicht. Sicher hat das auch etwas mit den besonderen Zeitläuften zu tun. Die langen Nächte in der Advents-, Weihnachts- und Epiphaniaszeit boten zumal unter den Bedingungen der Pandemie genügend Gelegenheit, über »die Nacht« und Nächtliches nachzudenken – und dabei auch manche innere Finsternis aushalten zu müssen und verarbeiten zu können.

Zweideutig begegnet sie, die Nacht: Als Zeit des einsamen Ringens, als Gethsemane, aber auch als die »Schwärmerische«, wie es bei Hölderlin heißt, als Zeit des Symposion, des Bacchantischen, »traurig und prächtig« zugleich. Auch das Sedermahl am Abend des Abschieds dürfen wir uns durchaus in diesem Sinne vorstellen, »traurig und prächtig« – trotz Gethsemane. Oder wegen Gethsemane?

Zweideutigkeiten auch im Blick auf das vergangene, von der Corona-Pandemie geprägte Jahr: Manches, das wir für hell und klar gehalten haben, ist ins Zwielicht geraten. Die modernen Biowissenschaften haben uns in kaum für möglich gehaltener Geschwindigkeit hoch wirksame Impfstoffe geliefert, auf die sich nun, am Beginn des Frühjahrs, alle Hoffnungen der Rückkehr zur Normalität richten. Zugleich merken wir in den polarisierten Debatten um die Corona-Politiken, dass die scheinbaren Evidenzen, die »Fakten«, nicht für sich selbst sprechen. Daten sind immer eingebettet in Interpretationen und Erzählungen, in »Narrative«, die Spielräume lassen für unterschiedliche moralische und politische Konsequenzen – in denen dann wieder alle Zweideutigkeiten des Menschlichen begegnen. »En-lightenment « – die Aufklärung muss sich dem Schatten stellen, den sie selbst wirft. Diese Einsicht ist nicht neu. Im 18. Jahrhundert waren es einige versprengte Zeitgenossen wie Herder und Hamann, die auf die Einbettung der Verstandestätigkeit in geschichtlich vermittelte Zeichenwelten hinwiesen, in welcher Einbettung der Verstand erst zur Vernunft wird. Die Leidenschaft der Romantiker für die Nacht, in diesem Quatemberheft vielfach angesprochen und aufgenommen, stellt der immer weiter voranschreitenden Differenzierung der Moderne die Vision einer komplementären Entdifferenzierung gegenüber: So viel Wissenschaft und Experiment, Industrie und Produktion ist überhaupt nur auszuhalten, wenn es mächtige Gegenwelten gibt: In Phantasie, Kunst – und Religion. Die hohe Skepsis etwa des alten Goethe, im zweiten Teil des Faust oder in den Wanderjahren, ist berühmt.

In der Nacht lösen sich die Eindeutigkeiten auf, verschwimmen die Unterscheidungen und die Orientierungsmuster des hellen Tages. So ist die Nacht nicht nur die Zeit von Bedrohung und Verrat, sondern auch die Zeit der Rückbindung in ein größeres Ganzes, ja der Verschmelzung – die mystisch grundierten Metaphern des Ozeanischen sind dem verwandt, »mich in das Meer der Liebe zu versenken«, heißt es in Gellerts bekanntem Passionslied (EG 91), »Meer ohne Grund und Ende« bei Tersteegen (EG 165).

In den Beiträgen dieses Heftes tritt eher die bedrohliche Seite der Nacht zutage, von vielen biblischen Texten und liturgischen Vollzügen her zweifellos naheliegend. Die Nacht des Verrats, die Finsternis, die um die neunte Stunde über die Erde kam, die Nacht der Hoffnungslosigkeit und der Sünde. Das biblische Evangelium können wir in der Tat nicht begreifen, nicht schmecken und sehen, wenn wir nicht diesen bitteren Geschmack der Nacht auf der Zunge haben.

Aber auch die andere Seite sollten wir nicht vergessen, auch auf dem geistlichen Weg nicht vergessen: Neben die asketische Spur der Nachtwache tritt für die Michaelsbrüder das abendliche und bis in die Nacht hinreichende Fest, die Agapefeier, bei der auch der Wein und die Begeisterung fließen sollen. Das Eingangszitat aus Hölderlins Elegie »Brod und Wein« zielt, wie Hölderlins Dichtung insgesamt, auf die Versöhnung, die »Friedensfeier«, von Christus und Dionysos, Christentum und Antike. Sind wir, wenn wir über gelingendes Leben und gelingende Orientierung im geistlichen Raum nachdenken, darüber je hinausgekommen?

Mein Eindruck ist, dass sich in der Klaustrophobie der Corona- Zeit nur ein sehr viel grundlegenderes Gefühl des Eingesperrtseins spiegelt. Es geht nicht in erster Linie um Ausgangssperren, wenn die Flugreise zu südlichen Urlaubszielen plötzlich nicht mehr möglich ist. So sehr ich es beklage und als echten und tiefen Verlust empfinde, auf Theater und Konzert verzichten zu müssen, nicht mehr mit 60.000 ins Stadion gehen zu können, nach dem Gottesdienst mit Freunden beim Kaffee zu stehen – ich habe doch andere Spielräume gewonnen. Ich war viel unterwegs im vergangenen Jahr, mit Jean Pauls »Flegeljahren« etwa an den kleinen Fürstenhöfen in Mitteldeutschland, mit Senecas Briefen an seinen Freund Lucilius in Rom, mit Terence Malicks »Tree of Life« in Texas – um nur einiges von dem zu nennen, was mich im Jahr 2020 stark beeindruckt hat. Weil das graue Rauschen vieler Dienstreisen fehlte und viel weniger äußere Reize zu verarbeiten waren, konnten diese Eindrücke in den Nächten weiterwirken. Die Nacht bedeutet eben auch, dass Grenzen überschritten werden können, dass Erkundungen des Gedankens und der Gefühle, des Seins und Tuns stattfinden können. Experiment und Exploration. Auch dies Grundworte des Glaubens.

Gethsemane und Symposion sind diese beiden Seiten der Nacht. Beide haben ihr tiefes Recht. Beide aber münden in den neuen Tag, den österlichen Morgen, den Anbruch der neuen Schöpfung: »Erschienen ist der herrlich Tag, dran niemand sich gnug freuen mag. Christ, unser Herr, heut triumphiert, sein Feind er all gefangen führt. Halleluja.« Das ist das Letzte, was über die Nacht zu sagen ist – und das geht dsnn über die Nacht hinaus.

Die Nacht im Bildschaffen
Helmuth Uhrigs

von Ulrich Koring

Verkündigung an die Hirten, KA-Neureut, 1961, Tusche, Kreide, Deckfarbe, F 7,23

Nacht darzustellen ist für einen bildenden Künstler schwierig, denn wie die Nacht konkret erlebt wird, das soll im Bild ja zu Tage treten. Der Erzähler hat es da einfacher. Gleichwohl finden sich im Gesamtwerk von Helmuth Uhrig manche bildnerischen Gestaltungen, die das Spezifische der erzählten Wirklichkeit von Nacht erhellend hervortreten lassen. Nacht ist nicht nur Dunkelheit als Abwesenheit von Licht. Nacht hat viele Erfahrungs- und Ausdrucksqualitäten: Sie umfasst das Chaotische, das Böse, die Angst, die Einsamkeit, das Leiden, den Tod, aber auch den Schutz, die Ruhe, den Schlaf, die Begegnung mit Gott, das Flehen, Klagen, Ringen und Einwilligen.

1.
Diese Ausführungen und die beigefügte Bildauswahl könnten breiter entfaltet werden. Es liegt nahe, zunächst allgemein vertraute Beispiele zu betrachten, die auch in unserem liturgischen Jahreslauf einen festen Platz haben: Die Ereignisse der Heiligen Nacht eröffnen die Frohe Botschaft vom Kommen des Retters; die Nacht der Passion bringt – verborgen unter das Gegenteil – zum Vorschein, wie Gott im Elend des Verstoßenen, der unter Spott und Qual stirbt, gegenwärtig ist, sodass er dem Mitgekreuzigten sagt: »Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.« Darin wird unsere Erlösung wirksam: Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes.
Im Epos Reineke Fuchs würdigt Goethe die Mitte des Frühlings, wenn die Natur in voller Blüte steht, als »das liebliche Fest«, weil ein vielversprechender duftgeschwängerter Geist die Welt erfüllt: »Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel …« Demgegenüber hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. das Weihnachtsfest das Prädikat des Lieblichen angenommen. In der nördlichen Hemisphäre ist das Wunder der Christgeburt in die dunkle Zeit der Wintersonnenwende eingebettet; auf der Südhalbkugel wird das Weihnachtsfest im Hochsommer begangen. Die kulturelle Überformung im deutschen Sprachraum kommt zum Ausdruck in dem 1818 im Salzburger Land entstandenen Lied »Stille Nacht, heilige Nacht«.
Vor allen Türen Betlehems abgewiesen, wird der Retter in einem Unterstand der Herden wie ein Ausgestoßener geboren. Umso kräftiger fällt die Ankündigung seiner Geburt im Nirgendwo der Nacht aus: »Es waren Hirten in der Gegend bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herden. Der Engel des Herrn trat zu ihnen und der Lichtglanz des Herrn leuchtete um sie.« Sie, die keinen zivilen »Zeugenstatus« haben, werden zu Zeugen und Übermittlern der Frohen Botschaft: »Euch ist heute der Heiland geboren.«
Auf der Suche nach dem neugeborenen König sind die Sterndeuter nachts unterwegs, denn »der Stern, den sie im Morgenland gesehen hatten, ging vor ihnen her, bis er über dem Ort stand, wo das Kindlein war« (Mt 2,9, Abb. 1).
Tief eingeprägt ist vielen Menschen auch die Redewendung »dieser Kelch möge an mir vorübergehen« – in dieser Wendung bewahren wir das Erbe jener Nacht im Garten Gethsemane: Jesus zieht sich mit seinen Vertrauten zurück, um zu beten. Gibt es einen Ausweg? Wenn nicht heute, so werden die Oberen ihn morgen fassen. Die eigene Haut zu retten ist keine Option.
Wie die Propheten hat er die Alleinwirksamkeit des Kultes in Frage gestellt und dessen Auswüchse in der Tempelreinigung bekämpft.

Abkürzungen: Tu = Tusche, Ko = Kohle, Kr = Kreide, De = Deckfarbe

Abb. 1 Sterndeuter folgen dem Stern, Ev. K. Hinterzarten, 1963, F 10,70


Abb. 2 Christus in Gethsemane, Ev. K. Hinterzarten, 1963, F10,55

Abb. 3 Petrus wird erkannt, Homburg, F1,50

Abb. 4 Paulus und Silas loben Gott, Brühl, 1956 – 68, F1,40

In Gleichnissen und in seiner Zuwendung zu den »Sündern« hat er die Grundfrage: »Was tut Gott uns zugute – und wie können wir gottgefällig und menschenfreundlich leben?«, so beantwortet: »Du sollst Gott lieben und ihm vertrauen von ganzem Herzen, mit ungeteiltem Verlangen und aller Tatkraft – und deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Die Gnade ist größer als alle Schuld. Das haben die Propheten auch verkündet – die einen schlugen sie, die anderen töteten sie.
»Vater, ist‘s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber.« Jesu Angst vor der Gewalt, die er erleiden wird, ist groß, seine Zuversicht aber noch größer. Er setzt sein Leben aufs Spiel in der Überzeugung, dass durch sein Leiden die Gottesherrschaft zum Vorschein komme. Er ist bereit zu sterben, wie viele Märtyrer vor ihm – so auch sein Vetter Johannes (der Täufer).
Was er geglaubt, was er verkündet hat – kann ihn das jetzt selbst tragen? Passah wird in der ersten Frühlingsvollmondnacht gefeiert; wie einst der Würge-Engel von Haus zu Haus ging, ist nun der Vertraute, der ihn an den Hohen Rat verriet, unterwegs, um sein düsteres Werk zu verrichten. Der Garten am Ölberg und das Ringen im Gebet werden von einem spirituellen Licht durchleuchtet. Wie der Vollmond das Licht der Sonne in die dunkle Nacht lenkt, so klar erleuchtet die Liebe Gottes diese schwere Stunde und erfüllt den Betenden mit Trost und Zuversicht.
Über Jahre hin hatte Helmuth Uhrig eine Formsprache entwickelt, deren Symbole die Zuwendung und Wirksamkeit Gottes hervorheben und ihr schöpferisch heilendes Eingreifen deutlich machen. Jesus kniet am Berg der Offenbarung, er verankert den Augenblick der Bedrängnis in der Zuwendung Gottes. Diese kommt zugleich und vor allem in den pulsierenden Himmelslinien zum Ausdruck. In der Dialektik von Bedrängnis und Rettung, Tod und Leben, Verlassenheit und Geborgenheit bringt Gott seine rettende Einwirkung zur Geltung. Die Himmelslinie bedeutet, von Gott umarmt zu sein; die gegenläufige Erdlinie, die Uhrig an anderer Stelle zeichnet, isoliert den Menschen von Gott und nimmt ihn wie durch dunkle Mächte gefangen. Das dritte interpretierende Zeichen ist die wehende Tunica; sie symbolisiert häufig die rettende Zuwendung Jesu zu den Menschen, in der wiederum die sich frei verschenkende Gnade Gottes zum Ausdruck kommt. Sie macht die »offenen Arme Gottes« im Leben des Einzelnen erfahrbar.
Im Gebet in Gethsemane (Abb. 2) unterstreicht und vergrößert die schwungvoll sich zu Gott ausstreckende Tunica die Gebetshaltung: »Wirf dein Anliegen auf den Herrn.« Das Widerstreben von Angst und Vertrauen würde in eine Erstarrung münden, wenn der Betende es nicht vor Gott ausbreitete. Die Tunica betont – begleitend
zur Gebärde der Hände – das Flehen, Bangen und Zagen, aber auch die Offenheit, den Schmerz und den Tod anzunehmen: »Nicht wie ich, sondern wie du willst.« So erlangt Jesus Klarheit und Kraft und Beistand. So birgt sich Jesus in Gott, bevor er in die Hände der Häscher fällt. Was folgt, geschieht im Dunkel der Nacht: Gefangennahme, Anklage, Geißelung. Die Verbindung von Unrecht und Nacht beschreibt Bertolt Brecht so: »Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht, und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.«

2.
Gehen wir weiter: Mehrfach weisen die Evangelien darauf hin, dass Jesus die Intimität der Nacht aufsucht, um im Schutz der Einsamkeit sich der Zwiesprache mit Gott hinzugeben (Lk 6,12). Gestärkt für den »geistlichen Gang auf den Wellen«, begegnet er den Jüngern auf dem nachtschwarzen See. Über seine Gegenwart in den Abgründen der Nacht, über sein Kommen auf den Wogen der Angst erschrecken sie. Wie vertraut ist uns die Situation: eher rechnen wir mit dem Gespenstischen, als dass wir uns auf die Gegenwart Jesu in unserer Bedrängnis einstellen (Mt 14,25 ff.).
Die Nacht bietet Gelegenheit, alles zu verbergen, was das Licht des Tages scheut: Betrug, Diebstahl, Nachstellung; sie ist auch der Raum der Angst, der Ratlosigkeit, der Verlassenheit (Ps 31,10 ff.; 102,7 f.). Daran angelehnt malt Lk 15 das Bild des »Verlorenen«, der im Abgrund des Elends aus seinem Wahn erwacht und umkehrt in die Geborgenheit – von Uhrig vielfach bearbeitet.
In der Szene der Verleugnung am nächtlichen Feuer (Mt 26,69 ff., Abb. 3) zeigt Uhrig mit den Fingern der Magd und der Soldaten identifizierend auf Petrus; geschützt vom Dunkel der Nacht, wollte er unerkannt dem Meister nahe sein. Sein Leugnen treibt ihn bald hinaus, weg von Jesus, der wie durch ein Fenster einsam aus der Tiefe der Nacht zu ihm herüberschaut.
Bei Nacht fließen die Tränen (Ps 6,7), bei Nacht sucht das Schreien der Betenden Gottes Ohr; andererseits erklingt das Lob zur Ehre Gottes (Ps 42,9; 63,7 ff.; 92,3; 134). Als Paulus und Silas (Apg 16,25) in Philippi im Gefängnis sitzen, rühmen sie Gottes Treue, seinen Schutz und seine Führung – und erleben, dass die Wände wackeln (Abb. 4).
Das Lob spiegelt nicht allein das augenblickliche Wohlergehen, die Klage entspringt nicht allein dem Schmerz und der Verzweiflung. Es kann die (längst historische) Zerstörung Jerusalems beklagt werden, weil sie einen Mangel an »Bundestreue« und demzufolge den Verlust der geistlichen Präsenz Gottes darstellt (Ps 79,1; 80; Jes 64,10; Jer 25,18; Klgl 2,15 ff.; Neh 9; Dt 9).

Abb. 5 Flucht nach Ägypten, a. Scherenschnitt, 1923, b. Holzschnitt, H17, 1954

Abb. 6 Paulus flieht, Fenster-Entwurf, Ort und Zeit unbekannt, F2,67

Abb. 7 Heute Nacht wird man dein Leben zurückfordern, Tu Kr, 1966, E36,34

Abb. 8 Wenn du Gottes Sohn bist, Tu Kr, 1968, E36,16

Die Nacht bietet Fliehenden Schutz. Josef flieht (Mt 2,14) mit Maria und dem Kind vor Herodes (Abb.5a/b); sie eilen durch die schwarze Nacht bzw. gehen im Licht des schützenden Engels, der sie vor dem zähnefletschenden Bösen schützt. Ähnlich wie David vor Saul flieht, wird Paulus (Ac 9,25) bei Nacht an der Stadtmauer hinabgelassen und vor Zugriff geschützt (Abb. 6).

3.
Die Nacht kann alle Pläne zunichtemachen und den Selbstsicheren aus dem Leben reißen (Lk 12,20, Abb. 7). Uhrig stellt das Thema in einer Sequenz dar: Von der Betonung der vordergründigen Sicherheit verlagert sich der Akzent mehr und mehr auf die »vanitas «, die Sinnleere des materiellen Besitzes, denn »das letzte Hemd hat keine Taschen«; reduziert auf sein Gerippe, liegt der stolze Besitzer inmitten seines Wohlstandes. So müssen wir alle »wieder zu Staub werden«.
Die Nacht kann dem Menschen am hellen Tag begegnen als die Macht des Bösen, als Macht der Verführung. Der Versucher verkörpert die dunkle Seite in uns. Er verkörpert die Alternative, für die viele Verstandesgründe sprechen. Er bietet den »Kick« der »einmaligen Chance« – jetzt Erfolg erlangen oder nie. Und doch ist der Versucher so leicht durchschaubar, er ist ein Phantom, eine Manifestation unserer eigenen Großmannssucht. Eigentlich machen wir uns mit ihm nur lächerlich. Deshalb erscheint der Versucher immer fratzenhaft, überspitzt und leicht zerbrechlich (Abb. 8). Die Nacht wohnt sogar der Denkweise der frommen Selbstgerechtigkeit inne; Heimtücke steckt in der Frage des frommen Schriftgelehrten: »Wer ist mir der Nächste?« (Lk 10,26). Uhrig wendet das Innere nach außen: Der Hinterhältigkeit und Überheblichkeit dieser Fragestellung gibt er Ausdruck in der Schwärze, die den Fragenden einhüllt (Abb. 9).

4.
Der Ur-Akt der Schöpfung besteht darin, dass Gott das Chaos-Dunkel verwandelt: »Es werde Licht!« (Abb. 10). Ans Firmament setzt er Lichter, die die Nacht regieren (Gen 1,14) und ihr das Vergehen einprägen (Ps 104,19). Das Dunkel der Nacht ist gemäß dem Lauf der Gestirne in Nachtwachen eingeteilt; die Nacht wird vom aufgehenden Licht überwunden. Bei Nacht (Ps 104,20) werden die wilden Tiere aktiv, während die Haustiere schlafen. Mit den Menschen ruhen auch ihre Arbeiten und deren Lärm. Die verriegelte Haustür zu öffnen würde schier das ganze Haus aufwecken (Lk 11,7).

Abb. 9 Er wollte ihm eine Falle stellen, 1968, Kr De, F36,1

Abb. 10 Tag/Nacht, 1961, Neureut, Tu Kr De, F7,6

Abb. 11 Samuel antwortet auf Gottes Ruf, 1968, Kr De, E35,45

Abb. 12 Abraham schaut die Fülle des Segens, Tu De Ko, ohne Ort und Zeit, F2,30

5.
Äußere und innere Ruhe führen ins Nachsinnen (Ps 63,7), ins Meditieren (Ps 119), in die visionäre Schau (Sach 1 – 8; Dan 2; 7; Off 1,10 ff.; 4,1 ff. u. ö.). Die Vision ereignet sich nicht wie ein Blick durchs Schlüsselloch, vielmehr erzählt sie sinnbildliche Wahrnehmungen und gibt darin verschlüsselte Antworten auf bedrängende Fragen der Gegenwart. Breit angelegte Visionen (Sacharja und Offenbarung) nehmen Stellung zu einem besonderen Ereignis (Tempelbau; Christenverfolgung), die Visionen im Buch Daniel ordnen die Machtverhältnisse der Gegenwart in den weltgeschichtlichen Zusammenhang ein.
Die Nacht lehrt, mit dem inneren Ohr zu hören. Der junge Samuel (1Sam 3; Abb. 11) ist noch nicht darauf vorbereitet, die Stimme Gottes zu hören. Durch den Schritt in den inneren Gehorsam lernt er, jenseits der Bindung an das Sakralrecht und die Amtsausübung des Ortspriesters Eli sich vor Gottes Anspruch zu verantworten: »Rede, Herr, dein Knecht hört« – prompt empfängt er eine system-kritische Botschaft: Das Ende des Priestertums Elis ist gekommen.
Bei Nacht sind zwar »alle Katzen grau«, aber die ureigene Herausforderung beginnt zu leuchten wie die Sonne. Das zeigen die Träume des Josef: Weil sie tiefere Wahrnehmung enthalten und eben nicht »Schäume« sind, deshalb kann er sie nicht verbergen und für sich behalten. Allerdings muss er einen hohen Preis dafür zahlen: Seine Träume stoßen auf Widerstand, der junge Taugenichts wirkt anmaßend; die »Auszeichnung« mit dem Festgewand, hindeutend auf die künftige Stellung, reizt die Brüder, mit ihm kurzen Prozess zu machen.
Das Gespräch Salomos (1Kön 3 »Gib mir ein weises Herz«) wählt für diese, seine Weisheit herleitende Qualifikation den Traum als über-rationale Ebene für die Zwiesprache mit Gott. Die besondere Bitte um Weisheit, Verstand und Urteilskraft findet im Traumgeschehen einen Sprachleib, der es erlaubt, den König zu Gott und Gott zum König zu führen – wie von Mose gesagt wurde, dass Gott mit ihm redete wie mit einem Freund (Ex 33,11). In seiner Funktion als Stellvertreter Gottes hat der König die Aufgabe, die göttliche Ordnung im Alltag der Menschen zur Geltung zu bringen.
Auch an vielen anderen Stellen öffnet sich im Traum das Tor zur Begegnung mit Gott. Der Seher Bileam empfängt seine Segenssprüche bei Nacht. Die weisen Sterndeuter empfangen durch den Deute-Engel ein Weggeleit und gehen »auf einem anderen Weg« (Mt 2,12) eben nicht zu Herodes, dessen Eifersucht schon den Mord vorbereitet. Paulus lässt sich im Traumgesicht nach Europa rufen. Während seiner Reise nach Rom (Apg 27,23) offen bart ihm die Engelerscheinung die Aussicht auf Rettung aus der Seenot.
Abraham schaut (Gen 15; Abb. 12) im Traum das himmlische Abbild des noch unsichtbaren Segens. Die Vision, die den Segensbund mit Abraham besiegelt, entfaltet Helmuth Uhrig in einer spiegelbildlichen Entsprechung: Wie die unzähligen Sterne ihre Bahn ziehen, so wird Abrahams Glaubensweg zu einer weitläufigen Segensspur werden. Um die Segnung in seinem Leben wahrzunehmen, muss Abraham die Augen schließen, schlafen, vom Irdischen Abstand nehmen, um an den Sternen, die er nicht greifen kann, zu lernen, dass auch Segen unverfügbar ist und nur mit dem inneren Auge gesehen, d. h. mit Vertrauen, Treue, Weitergehen empfangen werden kann.

6.
Eine mehrteilige Studie hat Uhrig zum Thema der Umnachtung des Lebens und der Ermüdung des Glaubens angelegt, indem er die zehn Brautjungfern (Mt 25) im Warten auf den Bräutigam darstellt. Was die Erzählung in der schroff wirkenden Abgrenzung und Zurückweisung der »Nachzügler« zum Ausdruck bringt, teilt Uhrig in einzelne Schritte und Optionen auf (Abb. 13 u. 14). Die Nacht ist lang, der Bräutigam lässt auf sich warten. Kein Wunder, dass einige der Mädchen bereits vom Schlaf übermannt sind.
Die Erschöpfung aber ist nicht das Problem, der Schlaf fällt auf die einen wie auf die anderen; es geht vielmehr um die geistliche Lebendigkeit, symbolisiert durch die ausdauernde Leuchtkraft der Öllampen. Uhrig macht die »klugen« Frauen nicht am Brennen der Flamme erkennbar, sondern am Ölkrug, der neben den Frauen steht, ob sie nun schlafen oder wachen.
Die eine lebt in frommer Routine, eine andere in frommem Aktionismus. Bei einigen ist die Flamme erloschen – d. h., die Offenheit zu Gott hin und die liebevolle Aufmerksamkeit für die Mitmenschen ist gestorben. Diese Frauen unterscheiden sich nicht von der Umwelt, sie sind eingehüllt in religiöse Routine, in Pragmatismus und Realismus; dass der »Bräutigam kommen« wird, davor haben sich ihre Augen geschlossen.
Die Frauen, die Vorrat bei sich führen: eine schläft, eine andere ruht, eine steht, eine kniet in innerer Wachheit und Erwartung. Ihre Körperhaltung ist ganz und gar »wachen und beten«. Zwar kann über dem Warten die Kraft des Glaubens zur Neige gehen, Hoffen und Lieben kann strapaziert werden und ermüden; aber das Licht wird nicht verlöschen, denn die »Klugen« haben sich zur Reserve einen Krug Öl mitgenommen, d. h., sie tragen einen Überschuss an Herzensnähe und vertrauensvoller Verbundenheit in sich.

Abb. 13 und 14: Die klugen und törichten Frauen, Görwihl, Tür-Entwurf, ca.1963, Tu Ko, E60,18 und 20

Heiteres Lärmen weckt die Betenden und die Schlafenden auf. Alle greifen nach ihren Lampen. Doch fünf sind erloschen. Was ist zu tun? Wie kommt man aus lähmender Gewohnheit, aus Zweifel und Anpassung heraus? Wie soll der Glaube hell leuchten, wenn er erst erloschen ist?
Schnorren geht nicht. Glauben auf Pump – unmöglich. Ich kann nicht andere für mich glauben und leuchten lassen. Es kommt auf mein Herzenslicht an. Jetzt wird deutlich, was die »Klugen« von den ›Törichten‹ im Kern unterscheidet. Ihre Wege trennen sich; die einen eilen, um Öl, d. h. Liebe und Zuversicht nachzukaufen; die anderen gehen mit flammender Freude dem Bräutigam entgegen.

7.
Unberechenbar ist das Kommen Gottes, der »Tag des Herrn«, unvorhersehbar wie der Dieb in der Nacht (1. Thess 5,2; Abb. 15) bricht er über uns herein.
Wie das Leben ist: vielschichtig und ambivalent, so umfasst die Nacht sowohl das Unheil als auch die Rettung. In tiefster Nacht geht der Würger durch die ägyptischen Häuser und fordert das Leben der Erstgeborenen. In diesem letzten Akt der Plagen hängen Tod und Leben zwiegesichtig zusammen, darum bezeichnet Ex 12,42 dieses Tod und Leben zuteilende Eingreifen als Gottes Vorrecht: »diese Nacht gehört Jahwe«, d. h., so und so geht Jahwe zu Werke; Wolke und Feuer führen ins Leben. Der Auszug gleicht der Schöpfung; in Freiheit und mit Segen zu leben ist ein Schöpfungsakt.

Abb. 15 Der Tag Gottes kommt wie ein Dieb, ohne Datum, Kr, E55,3

8.
Zuallermeist erklingt eine Nacht vergegenwärtigend und mit ansteckender Freude durch alle Räume und Zeiten dieser Welt. In vielen Kirchen werden Sonntag für Sonntag diese Worte gesagt oder gesungen: »In der Nacht, da Jesus verraten wurde, nahm er das Brot, dankte, brach’s, gab‘s ihnen …« (1Kor 11,23). Dieser Satz ist zum Schlüsselsatz der christlichen Liturgie geworden; wir halten damit ein Wahrheitsmerkmal im Bewusstsein, ohne das der Glaube an Christus zur optimistischen Weltanschauung oder zur intoleranten Ideologie entarten würde. Das Ausgeliefertsein an vernichtende Gewalt hat in der jüdischen Glaubenserfahrung zum Verzicht auf Gewaltanwendung geführt: »Die Rache ist mein«, legt bereits das Deuteronomium (32,35; Ps 94,1) fest. Darum sagt Jesus »Selig die Sanftmütigen …« (Mt 5).
Im Namen des Himmelreichs hat Jesus Unrecht, Spott und Tod erlitten. Er selbst hat begonnen, die österliche Dimension in der Sphäre der Nacht – also in Bedrängnis und Leid – und somit mitten in unserem Leben zu entfalten. Der Glaube an den Gesalbten, den Retter (Christus Jesus), ist aus der Nacht heraus, aus der Erfahrung von Angst, Schrecken, Leiden und Sterben geboren worden, weil diese Nacht »nicht endlos« ist. Die Finsternis, die sich gegen Gott aufwirft, ist von der Gegenwart Gottes umhüllt und durchdrungen, sie wird von der aufweckenden re-kreativen Kraft der Liebe durchstrahlt, die Nacht des Karfreitags weicht dem Licht des Ostermorgens.
Dieser ist der »achte Schöpfungstag«, der erste Tag der österlichen Zeitrechnung. Das bedeutet: Die Nacht der Bedrängnis ist Ausdruck der Machtverhältnisse in der Welt, sie unterliegt aber der Wandlung zum Leben auf der Rückseite des Todes. Die Nacht, in der Jesus verraten wurde und mit seinen Jüngern zu Tisch saß, feiern wir seither als das Aufscheinen des Ostertages. Diese Nacht umschließt alle anderen Nächte – und hat mit dem symbolischen
Reinigungshandeln des Hohepriesters am Neujahrsfest gar nichts zu tun. Diese Nacht ist die Nacht der Danksagung für die allgegenwärtige Wandlung des Todes in neues Leben – eben Eucharistie.

9.
In einem der Bilder zur eucharistischen Gegenwart verschmelzen Bedrängnis und Angst mit Gemeinschaft, Schutz, Trost und Zuversicht. Jesus ist mitten unter uns, er bricht das Brot, er teilt sich aus als Lebensbrot, und alle im Schiff essen die Eucharistie (Abb. 16).

Abb. 16 Lebensbrot im Angesicht der Bedrängnis, ohne Ort und Datum, F2,68

Was für ein ver-rückendes Geschehen! Im Angesicht des Todes feiert Jesus mit seinen Freunden, feiert Jesus mit uns die geistliche Verbundenheit in einem neuartigen Leben, das den Tod für immer hinter sich lässt. Die Frommen seiner Tage wollten den Menschensohn aus der Welt schaffen – eben dadurch haben sie ihn wie Saatgut unter die Leute gebracht. Wir verkünden seinen Tod, wir preisen seine Auferstehung – weil er immer wieder kommt.
Das Ge-heim-nis des Glaubens ist unsere geistliche Heimat. Dem gab Michaelsbruder Helmuth Uhrig unermüdlich Ausdruck. Über Jahre hin hatte er eine Symbolsprache entwickelt, die Grundzüge der »Kraft Gottes« und ihres schöpferisch heilenden Eingreifens hervorheben.

Biografie von Helmuth Uhrig im Überblick
1906 geboren in Heidenheim
1925 Studium an der Kunstgewerbeschule Stuttgart bei Alfred Lörcher, Bildhauer-Klasse
1928 Assistenz bei Prof. Lörcher mit Lehrauftrag
1932 Heirat mit Gretel Eyth
1933 Niederlassung als freischaffender Künstler
1939 – 45 Mitarbeiter beim Roten Kreuz in der Versorgung von Verwundeten
1945 Referent für Flüchtlingswesen in Kopenhagen
1946 Rückkehr nach Stuttgart, Arbeit an Holzschnitten, Zeichnungen u. a.
1948 ff. Entwicklung des ›Sprechzeichnens‹ und vieler Symbolbilder
1951 Aufnahme in die EMB
1951 ff. Berater für Kirchengemeinden in Kunstfragen, Referent im Verein für Kirche und
Kunst, Gemälde und Arbeiten in Stein, Holz, Metall, Textil
1960 Umzug nach Arnoldshain in die Nähe der Evang. Akademie
1979 gestorben in Arnoldshain, beerdigt in Stuttgart

Antriebskräfte und Früchte in seinem Kunstschaffen
Neben Feder- und Kreidezeichnungen, Ölgemälden und Glasfenstern schuf Uhrig Altäre, Kanzeln, Taufsteine, Figuren und Reliefs aus Stein, Holz, Bronze sowie Entwürfe für Paramente, Abendmahlsgeräte und Glockenzier. Seine Holzschnitte haben in religionspädagogischen Büchern Verbreitung gefunden. In zahlreichen Aufsätzen hat er seine Gedanken zu Form und Inhalt christlicher Kunst dargelegt. Seine breite Ausbildung in künstlerischen Techniken und Architektur befähigte ihn dazu, Gesamtkunstwerke zu schaffen.
In der Kunstsammlung Helmuth Uhrig (KHU) befinden sich ca. 9.000 klein- und großformatige Werke, darunter Zeichnungen, Studien, Entwürfe und Werksvorlagen, ferner Tagebuchaufzeichnungen; umfangreich ist seine 770 Akten umfassende Korrespondenz mit Kollegen, Kirchengemeinden, Theologen. Seine Handbibliothek mit Schriften zu Kunst, Theologie und Psychologie spiegelt sein Ringen um den künstlerischen Weg.
Sein Lehrer Lörcher führte ihn zur Auseinandersetzung mit dem Expressionismus und Kubismus, ermutigte ihn zu freier Gestaltung und der Entwicklung einer eigenen Formsprache. Bei Lörcher lernte Uhrig Kandinsky und Ozenfant persönlich kennen. Im Zuge der Bauhaus-Ausstellung in Stuttgart 1927 begegnete Uhrig namhaften Architekten.

Die Nachkriegsjahre forderten Uhrig wie viele Kollegen zu einer Neuorientierung heraus. Er engagierte sich im Vorstand des Verbandes bildender Künstler. Im Gespräch mit einem Theologen über Bibelauslegung nahm er Linien zur Verdeutlichung der Dramaturgie einer Geschichte zu Hilfe, die er »Glyphen« nannte – das Sprechzeichnen war erfunden.
In seinem Tagebuch schrieb Uhrig (am 4.2.1950) über »die Tragik und Dramatik im Leben vieler Menschen und über ihre Sehnsucht nach einem festen Halt im Glauben«. Intensiv beschäftigte er sich mit Hiob – »plötzlich, in zwei Nächten, schrieb ich alle 15 Blätter mit Rötel und Tusche nieder. Hier ist es, was mir das Buch Hiob zu sagen hatte: Glauben ist ein großes Geschenk.« Als Grundproblem künstlerischer Gestaltung sah Uhrig »Das Was und das Wie in der bildenden Kunst« (5.2.1947): »Bin ich mit meiner Naturbetrachtung [eines Baumes] bis zur Abstraktion vorgedrungen, dann habe ich auch eine künstlerische Darstellung des Begriffes ›Baum‹ erreicht, d. h., ich habe das Sinnbild ›Baum‹ geschaffen.« Einen wichtigen Platz in seinem Lebenswerk nahm die Symbolforschung ein (zitiert nach Helber, Helmuth Uhrig, S. 15). Bis in die 60er Jahre schuf er Symbol-Bilder, Umrisszeichnungen und gefüllte Formen; auf das Wesentliche reduziert, zeigen sie eine große Klarheit.
In Württemberg ist Uhrig am Wiederaufbau von über 60 Kirchen beteiligt. Seine Bildwerke sollen zu einem tieferen Verständnis der biblischen Aussagen führen und diese durch die jeweilige Komposition untereinander verstärken: »Das Kirchengebäude selbst muss von dem mitteilen, was in der Kirche als Ereignis geschieht. Das geht aber nicht ohne das biblische Bild« (Karl Kenntner, Die Christuskirche in Brühl und ihre Bilder, S. 4). In der Korrespondenz mit der Gemeinde Köln-Porz (1964) schrieb er: »Ich bin … der Überzeugung, dass die Kirche von heute eine ›Missionskirche‹ in der pluralistischen Gesellschaft ist. Bei einer derartigen Mission dürfte das biblische Bild eine nicht unwichtige Rolle spielen.«
Die Gegenstandslose Kunst hat Uhrig das Auge geöffnet für Grundzüge der Form. Von der Abstraktion her wagt er eine neue Gestalthaftigkeit, die dem Inhalt Ort und Zeit und damit Verbindlichkeit gibt. Die symbolisierte – also mit Bedeutung aufgeladene – Gestalt zieht den Betrachter ins Bildgeschehen hinein.
Rückblickend auf sein Schaffen schrieb Uhrig: »Ich lebe nach wie vor mit meinen drei Heiligen: dem hl. Picasso, dem hl. Bultmann und dem hl. C. G. Jung. Alle drei haben Zäsuren gesetzt, hinter die man nicht mehr zurück kann.«
Ende der 60er Jahre erlahmte das kirchliche Interesse an seiner künstlerischen Sprache. Eine neue Zeit stellte neue Fragen und suchte nach neuen Antworten. Zugleich war eine neue Generation von Künstlern herangewachsen, die die Welt nicht mehr mit den Augen der Kriegserfahrung ansah, sondern aus dem Blickwinkel des Wirtschaftswunders und in Bezug auf seine aktuellen Probleme und Fragestellungen.
Das Grundanliegen von Helmuth Uhrig war dadurch gleichwohl nicht überholt. Seine Vision ist nicht verblasst, seine Bilder und Skulpturen sprechen uns auch heute als sichtbare Verkündigung an.

Helmuth Uhrig ruft seine Enkel
Uhrig setzt mit den Mitteln, die er sich in den 50er und 60er Jahren erarbeitet hat, biblische Erzählungen ins Bild. Was das Ohr hört, lässt er das Auge sehen. Uhrig bleibt nahe am Text, ohne ihn zu illustrieren. Er reduziert die bildliche Darstellung auf das, was für das Geschehen konstitutiv und markant ist und hebt das Wesentliche durch die Art der Gestaltung hervor. Freilich, mit seiner Kunst hat Uhrig nicht die Berühmtheit erlangt, die einem Picasso, Dali oder Chagall zuteilgeworden ist. Aber in dem umfangreichen Werk von Uhrig sind viele Kostbarkeiten enthalten, die kaum bekannt sind. Helmuth Uhrig hat seinen Nachlass dem Berneuchener Haus Kloster Kirchberg anvertraut. Daran hat er die Hoffnung geknüpft, dass Menschen, die die Bibel wertachten und auslegen, auch seine Interpretation und Ver-anschau-lichung des göttlichen Heilswirkens wertschätzen und fortführen.
Es wäre von Vorteil, wenn der umfangreiche Bildbestand leichter zugänglich gemacht würde. Das ist nicht nur wünschenswert, sondern erforderlich, um darauf gezielt zugreifen zu können.
Ein erster Schritt, der auf die bestehende Registrierung aufbaut, wäre der Plan, ein fotografisches Verzeichnis anzulegen. Ein weiterer Schritt bestünde darin, das Register-Nummer-Verzeichnis, das Abbild-Verzeichnis und das Bibelstellenverzeichnis elektronisch zu erfassen und miteinander zu verknüpfen. Das setzt voraus, dass Menschen sich zur Verfügung stellen, die das nötige EDV-Fachwissen, die Erfahrung und die nötige Zeit mitbringen. Neben dieser Verbesserung der Zugänglichkeit und Nutzung des Bestandes ist es uns ja wichtig, auch konkrete Begegnung mit dem Werk Uhrigs zu ermöglichen. Dies geschieht in Ausstellungen und Führungen. Beides kann regelmäßig und ansprechend nur gelingen, wenn weiterhin Mitglieder der Gemeinschaften und Kunsterfahrene aus der näheren Umgebung von Kirchberg diese Anliegen mittragen und sich die Aufgaben teilen.
Während 20 Jahren hat ein fünfköpfiges Team sich der »Sammlung Uhrig« angenommen mit großem Elan und gutem Erfolg. Die Begeisterung ist ungebrochen und unverbraucht lebendig. Aber alle sind inzwischen auch älter geworden und würden gern sowohl ihre Freude an der Betreuung der Sammlung als auch ihre Kenntnisse an nachfolgende Jüngere weitergeben.
Wer mehr wissen möchte über Uhrig, findet in Quatember 2001 einen brillanten Vortrag von Peter Poscharsky. Das Buch »Helmuth Uhrig, ein christlicher Künstler aus Württemberg«, 110 S., 2006, hg. von Ingrid Helber u. a. ist im Klosterladen Kirchberg erhältlich.

Ulrich Koring, geb. 1951, Pfarrer i. R., Studium der Theologie und Psychologie in Wuppertal, Hamburg, München und Tübingen, Begleitstudium in Kultur- und Kunstgeschichte, Zusatzausbildungen in therapeutischen Methoden, Gemeindepfarrer in Boll-Bochingen, Nürtingen, Ilanz/Graubünden und Heilbronn. Umweltpraktisch tätig in einer Energiegenossenschaft.

 
 
 
 

Mein Glaube

Wie die Vernunft dem Glauben auf die Beine helfen kann

von Hartmut Löwe

1.
Was eigentlich glaube ich? Warum ist der christliche Glaube für mich unverzichtbar? Wovon lebe ich und wofür bin ich bereit, wenn es sein muss, mein Leben hinzugeben? Ich denke nicht, dass mein Christentum als Vorbild für andere taugt. Vielleicht aber macht es eine Möglichkeit deutlich, Glaube und Vernunft so zusammenzubringen, dass der Glaube der Vernunft kein sacrificium intellectus bringen und die Vernunft nicht auf den Glauben verzichten muss. Es kommt ja nicht auf meinen subjektiven Glauben, sondern auf den Glauben der Christenheit an, der semper et ubique et ab omnibus in Geltung steht. Aber jeder Christenmensch realisiert für sich immer nur Ausschnitte aus dem Glauben der Kirche. Manches steht für viele heute am Rande, was einmal im Zentrum stand. Anderes ist wie ein Glas blind geworden und von den eigenen Augen nur noch mühsam zu entziffern. Mag es an den Zeitumständen liegen, der Kontingenz persönlicher Erfahrungen, den eigenen Grenzen – der ganze Glaube der Kirche wird im eigenen Leben nie vollständig eingeholt, es sind immer nur Teile vom Ganzen, die unser Denken und Handeln bestimmen. Schließlich bringt der Zweifel als Bruder des Glaubens immer wieder durcheinander, was wohl geordnet schien. Auch der Glaubende ist stets wieder ein Suchender.

2.
Was, über den Einzelnen hinaus, christlicher Glaube ist, formulieren die Bekenntnisse der Christenheit, vor allem das zuerst in Rom bei der Taufe abgelegte Apostolicum und, unübertroffen in seiner sprachlichen Schönheit, das auf den Konzilien der alten Kirche verabschiedete Nicaeno-Constantinopolitanum. Manche sagen, solche Aussagen könne man den Menschen der Neuzeit nicht mehr zumuten, sie seien höchstens noch als ökumenisches Zeichen der Zusammengehörigkeit der Kirchen zu sprechen. Seit vielen Jahren werden deshalb auch andere, den Vorstellungen unserer Zeit plausiblere Bekenntnisse formuliert. Neu ist das nicht. Martin Luther schon hat in seinem Kleinen Katechismus die drei Artikel des Apostolicums, die von Gott dem Schöpfer, Gott in Jesus Christus und Gott als Heiligem Geist handeln, für den schlichten Christenmenschen verständlich gemacht, mit mehr Worten, als sie das Apostolicum braucht, aber immer noch knapp und bündig. Selbstverständlich kann und soll man, was Luther begonnen hat, in jeder neuen Zeit fortsetzen und dabei auch zur Sprache bringen, was die Alten zu kurz oder überhaupt nicht gesagt haben. Denn bei ihnen fehlen außer der Kreuzigung Ereignisse aus dem Leben des irdischen Jesus vollständig: seine Rede von Gott in den Gleichnissen, sein heilendes Handeln in seinem Umgang mit Kranken, seine Disputationen mit den Frommen seiner Zeit. Sie dürfen heute nicht übergangen werden durch einen zu raschen Sprung hin auf das Leiden, die Kreuzigung und die Auferstehung Jesu. 

3.
Das in jungen Jahren mit Zurückhaltung und nicht ohne Bedenken mit der Gemeinde gesprochene Credo weckt bei mir seit langem keinen Einspruch mehr. Was immer wieder nicht wenige Zeitgenossen verstört und unüberwindliche Zweifel weckt, Jungfrauengeburt, Höllenfahrt und Himmelfahrt zuvörderst, führt bei mir zu keiner reservatio mentalis mehr. Ist das nur Gewöhnung? In mancher Hinsicht sicher auch. Aber in Wahrheit sind die alten Formulierungen in dem, was sie sagen wollen, sonnenklar. Jungfrauengeburt besagt, dass in Jesus Christus ein neuer Mensch zur Welt gekommen ist, der seinen Ursprung in Gott hat und keine menschliche Möglichkeit ist. Jesu Höllenfahrt macht uns gewiss, dass es keine Hölle auf der Welt gibt, in der wir nicht Jesus Christus antreffen können. Himmelfahrt zeigt an, dass wir zwar den irdischen Jesus verloren haben, dafür aber Jesus Christus in allen Himmeln unseres Lebens finden können. Die Formulierungen der alten Bekenntnisse sind nicht und waren niemals rationale (naturwissenschaftliche) Feststellungen, sondern sprechen in den weltanschaulichen Vorstellungen der frühen Kirche und ihrer Zeit aus, wer Jesus Christus im Unterschied zu anderen Menschen und Göttern für uns ist. Zu urteilen, wer Apostolicum und Nicaenum für sich oder mit der Gemeinde spreche, sei entweder in seiner Bildung zurückgeblieben oder, schlimmer noch, ein Heuchler, setzt unser bloß rationales Wirklichkeitsverständnis absolut, es verwechselt die Wahrheit des Glaubens mit dem, was man berechnen und zählen kann. Wissenschaft muss immer vom Konkreten abstrahieren. Deshalb kann kein Anatom die Seele des Menschen sezieren. Auch in anderen Zusammenhängen sprechen wir nicht nur die Sprache unserer Zeit und setzen uns über unser heutiges Weltbild hinweg. Wer sagt, die Sonne gehe auf oder unter, drückt sich nicht naturwissenschaftlich korrekt aus. Immer schon leihen wir uns Sprache von anderen, vor allem unseren Dichtern, wenn es um Dinge geht, die über den Verstand hinaus auch Herz und Gefühl berühren.

4.
Entscheidend bei solchen Erwägungen ist die sprachliche Struktur der Aussagen von Apostolicum und, besonders, Nicaenum. Berichte, Erzählungen, Gedichte haben je ihre eigenen Absichten und Sprachformen, man darf sie nicht vermengen, sondern muss sie sachgemäß lesen und interpretieren. Die klassischen Bekenntnisse wollen einem Überschwang des Herzens Ausdruck geben, Gott rühmen. Sie sind keine Mitteilungen von Mensch zu Mensch. Sie sagen Gott, wofür Menschen ihm danken, was er in seinem Handeln für sie war und bis heute ist. Sie sind Hymnen, Doxologien (doxa meint Herrlichkeit, Glanz). Die Liebe spricht anders als ein juristisches Protokoll. Die Bekenntnisse wollen über uns Menschen hinauskommen, uns vor das Geheimnis Gottes führen. Mit ihnen lassen wir die Welt hinter uns zurück und treffen auf Gott und seinen Himmel. Seitdem ich das einigermaßen verstanden habe, sind Elemente des antiken Weltbildes und mythologische Formulierungen keine Hemmnisse mehr, in die von der frühen Kirche überkommenen Bekenntnisse einzustimmen.

5.
Doch der christliche Glaube besteht nicht nur im Einstimmen von lange vor uns Formuliertem. Der alte Glaube der Kirche verlangt Entsprechungen im heutigen Erfahren, Denken und Handeln. Es gibt dabei unterschiedliche Zugänge. Früh schon wurde für mich der Gottesglaube in der Auseinandersetzung mit der sich wissenschaftlich gebenden, also keinen Widerspruch duldenden marxistisch-leninistischen Weltanschauung wichtig. Religion, Kultur, die Schöpfungen des Geistes konnten unmöglich nur, wie von der marxistischen Ideologie behauptet, Überbau über der Basis gesellschaftlicher, also vor allem ökonomischer Verhältnisse sein. Hier war Widerspruch nötig, war eine andere Überzeugung über den Ursprung von Religion, Kultur, Geist zur Geltung zu bringen. Sie sind unabhängig, eigenständig, nicht nur Projektionen materieller Gegebenheiten. Der Klassenkampf bildete nicht das allein bestimmende Movens der Geschichte, so wenig er gegenüber rein idealistischen Deutungen zu vernachlässigen ist. Die über das eigene Selbst und die Nächstenliebe hinausgehende Feindesliebe vertrug sich nicht mit den Parolen des Hasses gegen die Akteure in anderen, zumal kapitalistischen Wirtschaftssystemen. Jeder Mensch, auch der politische Gegner, ist ein Geschöpf Gottes. 

Später haben für meinen Glauben die Männer des Widerstands gegen Hitler und seine Clique eine prägende Rolle gespielt. Sie brauchten eine Basis für ihr Widerstehen gegen die Meinungen und das Handeln der Vielen. Die fanden nicht wenige im Bekenntnis zu einem Gott, der allem menschlichen Handeln, zumal dem der politisch Mächtigen, Grenzen setzt. Als Antrieb für ihren Widerstand entdeckten sie neu die alle verpflichtenden Zehn Gebote und, lange schon ohne besondere Bedeutung hinter sich gelassen, den christlichen Glauben. Besonders ihre Briefe aus der Haft und vor der Hinrichtung sind bewegende Dokumente der Kraft, die aus dem christlichen Glauben kommen kann. Es war einfach nicht wahr, sondern eine dreiste, menschenverachtende Lüge, dass alles gut ist, was dem eigenen Volke nützt, auch wenn andere Völker dabei verachtet und vernichtet werden. Das eigene Leben für das Leben anderer aufs Spiel zu setzen, fiel denen leichter, die nicht nur mit diesem irdischen Leben rechneten, sondern wussten, dass sie ihr Denken und Handeln vor einer höheren Instanz zu verantworten haben.

In den zunächst gerne bejahten westlichen Gesellschaften angekommen, wurde mir zunehmend die Hybris und Selbstüberhebung des Menschen, die Allmacht der Ökonomie und der Terror des Konsums, das auf Kosten des Seins immer nur mehr und mehr Habenwollen an Gütern, zum Ärgernis – trotz aller eigenen Verstrickung in eine vornehmlich am materiellen Gewinn orientierte Lebensweise. Wo lagen die Ressourcen für eine Umkehr von Irrwegen?

Orientierung gab das Beispiel Jesu. Er sprach vom Reich Gottes und seiner Fülle, von einer besseren Gerechtigkeit, der es zu folgen galt. Jesus brachte in seinen Gleichnissen einen Gott zur Geltung, der auch in den Gescheiterten sein Ebenbild erkannte. Er nahm sich der Kranken und sozial Deklassierten an, die von der Allgemeinheit schon abgeschrieben waren. Er widersprach einer Frömmigkeit, die das fromme Ego in den Mittelpunkt stellte und sich über andere, die weniger fromm waren, erhob. Jesus war einfach anders als die anderen Menschen seiner und unserer Zeit: gottesgewiss, unabhängig, mit wenig zufrieden, ein Freund der Menschen. Sich auf ihn einzulassen, sein Beispiel ernst zu nehmen, gab dem eigenen Leben Bedeutung und Sinn. Die Quintessenz, die das Johannesevangelium aus der Begegnung mit Jesus zieht, leuchtete mir ein, konnte ich nachsprechen: »Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit« (1,14).

6.
Eindeutige Forderungen für das politische Handeln der Kirche standen zu keiner Zeit im Mittelpunkt meines Glaubens. Natürlich verpflichtete mich das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe. Aber abgesehen von wenigen Grundentscheidungen (Nein zu Antisemitismus und Nationalismus, Nein zur Höherwertung von weißen gegenüber farbigen Menschen u. Ä.) schien mir der christliche Glaube verschiedene Optionen zuzulassen, besonders beispielhaft in den damals aktuellen Auseinandersetzungen um die Bewahrung und Förderung des Friedens. Die Gestaltung einer neuen und besseren Welt habe ich niemals für eine vorrangige Aufgabe der Kirche gehalten, ja nicht einmal für möglich. Es war schon viel, wenn manches Schlimme abgewehrt, den Ideologen von rechts und von links widerstanden werden konnte. Sozialethische Themen sind von Belang, lassen aber in der Regel verschiedene Positionen zu. So wichtig die Menschenrechte sind, sie durften nicht die Inhalte des Glaubens verdrängen. Was von vielen als eindeutige Forderung der Botschaft Jesu behauptet wurde, konnte ich häufig persönlich unterstützen, jedoch als Gebot der Vernunft und nicht als Forderung an das Handeln der Gemeinschaft der Glaubenden billigen.

7.
Diese Überlieferungsgemeinschaft der Glaubenden freilich, die Kirche, war mir stets wichtig. Alleine glauben zu wollen, empfand ich früh schon als eine Illusion. Christlicher Glaube ist keine Summe von Ideen und Überzeugungen, er wird erfahrbar vor allem in den Feiern der großen Taten Gottes, im Gottesdienst der Kirche. Subjektive Basteleien an der Liturgie waren mir immer ein Graus. Überhaupt wurde die leitourgia neben martyria und diakonia zentral für mich. Gottes Geheimnisse, die Botschaft Jesu, wollen nicht nur gepredigt, sie müssen gelebt und gefeiert werden. So traten die Eucharistie und die Stundengebete in die Mitte meiner kirchlichen Praxis. Hier wurde der eigene Glaube immer neu entzündet und bekam Nahrung durch das von Christus gesegnete Brot und den Wein, seinen Leib und sein Blut. Gott will nicht nur gedacht, sondern im Gebet angerufen und in den Sakramenten gefeiert werden. Der Weg des neueren Protestantismus erschien mir zunehmend als Irrweg, auch wenn die Begegnung des neuzeitlichen Denkens mit dem Christentum gegenüber dem bloßen Nachsprechen überkommener Dogmen ein Ausweis der Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit des Glaubens ist. Aber es durfte dabei nicht verloren gehen, was einmal groß und schön, Herz und Verstand berührend am Glauben gewesen war. Zeitgenossenschaft der Kirche setzt die Verwurzelung in ihrer Geschichte voraus. Manche früher bitter umkämpften Lehren des Glaubens, etwa die reformatorische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders sola gratia, solo Christo und sola scriptura, traten für mich in ihrer Bedeutung zurück. Sie waren in einer bestimmten kirchengeschichtlichen Situation verständliche und nötige Kampflehren, dürfen aber nicht auf Dauer das Gemeinsame des Glaubens verdrängen oder gar ersetzen. 

8.
Nicht erst im Alter empfinde ich ein tiefes Ungenügen an dieser Welt trotz ihrer Herrlichkeiten. Die Hoffnung auf ein Jenseits über Zeit und Geschichte hinaus hat mich nie verlassen. Ich fand sie schon grundgelegt in Jesu Verkündigung vom Reich Gottes, sie bekam aber besonderen Ausdruck, wenn der Apostel schrieb: »Ich habe Lust, aus dieser Welt zu scheiden und bei Christus zu sein«; denn »Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn« (Phil 1,23.25). Wo gibt es einen Halt im reißenden Fluss der Zeit? Wenn alles gleitet und vorüberrinnt (Hugo von Hofmannsthal), ist dann gar nichts bleibend, von Dauer? Was aber ist das? Zum Leben der Christen gehört seit den Anfängen der christlichen Gemeinden eine Sehnsucht über diese Welt hinaus, ein Ungenügen an ihr, eine Freude auf eine ewige Gemeinschaft mit Gott. Dieses Jenseits war nicht, wie man es später denunziert hat, eine billige Vertröstung der Zu-kurz-Gekommenen, eine Kompensation für die Mängel des Diesseits, vielmehr die Erfüllung des Schönen in Natur und Kunst, das besonders in großer Musik schon zu hören ist. Die Balance zwischen dem irdischen und dem kommenden Leben zu finden, ist nicht immer leicht, auf der einen Seite droht die Überschätzung des Jetzt und Heute, auf der anderen Weltschmerz und Flucht aus der Verantwortung, beides Kurzschlüsse und Versuchungen. Dagegen sind die Freude an dieser und die Freude auf Gottes Welt in Wahrheit keine Gegensätze, sondern nur zwei Erscheinungsweisen des Glaubens, sie bedingen einander. Seit vielen Jahren schließe ich jeden Tag, auch den erfülltesten und schönsten, ab mit zwei Strophen aus dem Gesangbuch, die eine von Gerhard Tersteegen, die andere von Matthias Claudius, die mir in ihrer Schlichtheit und einfachen Sprache viel bedeuten:

»Ein Tag, der sagt dem andern,
mein Leben sei ein Wandern
zur großen  Ewigkeit.
O Ewigkeit, so schöne,
mein Herz an dich gewöhne,
mein Heim ist nicht in dieser Zeit.«

»Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod,
und wenn du uns genommen
lass uns in’ Himmel kommen,
du unser Herr und unser Gott.«

»Exspecto vitam futuri saeculi.«
(Nicaenum: Ich erwarte das Leben der kommenden Welt.)
Oder, in weltlicher, poetischer Sprache:
Es sind noch Lieder zu singen jenseits des Menschen (Paul Celan).

Hartmut Löwe, geb. 1935, ist Pfarrer und war zuletzt Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und Militärbischof. Er ist Bruder im rheinisch-westfälischen Konvent der Ev. Michaelsbruderschaft und lebt in Bonn.

 

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