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Vierteljahreshefte für die Erneuerung und Einheit der Kirche

2-2022 | Wein

Inhalt

 Zur Einführung 
82Roger Mielke: Wein
  
 Essays
87Wolfgang Vögele: »Des süßen Weinstocks starker Saft«
96Karsten Wächter: Brot und Wein beim Abendmahl – was nehme ich da eigentlich zu mir?
101Ralf-Dieter Gregorius: Den Tisch decken
109Luca Baschera: Irritierende Radikalität – Ein Essay zu Ivan Illich (1926–2002)
  
 Stimmen der Väter und Mütter
128Heiko Wulfert: Wein – in Quellen aus der Kirchengeschichte
  
 Meditation
140Petra Reitz: Pfingsten
  
 Ukraine
144Peter Sachi: Noch ist die Ukraine nicht gestorben
146Gerhard Arnold: Neukonzeption der christlichen Friedensethik anlässlich des Ukraine-Kriegs
  
 Rezensionen
157Horst Scheffler: Hartwig von Schubert, Nieder mit dem
 Krieg. Eine Ethik politischer Gewalt
158Roger Mielke: Terry Eagleton, Opfer: Selbsthingabe und Befreiung.
  
160Roger Mielke: Adrian Daub, Was das Valley denken nennt. Über die Ideologie der Techbranche
  
163Adressen
164Impressum

Wein

von Roger Mielke


Foto: Rolf Gerlach

Wir waren allein. Er sprach. […]Manchmal schwieg er, nahm ein Brot aus einem Schrank, und wir teilten es. Dieses Brot schmeckte wirklich wie Brot. Ich habe diesen Geschmack nie wiedergefunden. Er gab mir und gab sich selber Wein, der den Geschmack der Sonne hatte und der Erde, auf der diese Stadt errichtet war. Manchmal legten wir uns auf den Boden der Mansarde, und die Süße des Schlafes senkte sich auf mich. Dann erwachte ich, und ich trank das Licht der Sonne.
Er hatte mir eine Lehre versprochen, aber er lehrte mich nichts.

Simone Weil, Cahiers 1, Prolog (April 1942)1

Sie sang das alte Entsagungslied,
Das Eiapopeia vom Himmel,
Womit man einlullt, wenn es greint,
Das Volk, den großen Lümmel.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,
Ich kenn auch die Herren Verfasser;
Ich weiß, sie tranken heimlich Wein
Und predigten öffentlich Wasser.

Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen. Caput 1

Der Menschensohn ist gekommen, isst und trinkt, und sie sagen: Siehe, dieser Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer, ein Freund der Zöllner und Sünder! Matthäus 11,19

Fast beneidenswert wie klar geordnet die Welt zu Heines Zeiten noch war. Die Kirche in konstantinischen Zeiten mit dem preu­ßischen Thron im Bunde, Macht und Ausbeutung legitimierend, die Verhältnisse stabilisierend – und hinter den Kulissen schlem­mend. Und heute? Vor den Kulissen kaum eine Spur noch von Kon­stantinismus, die Ablösung der Staatsleistungen steht an. Und backstage Angst und schlechte Laune. Wasser predigen und Wein trinken war gestern. Vielleicht ist das Umgekehrte aber noch grö­ßere Sünde: Wein predigen und Wasser trinken? Was dann hieße, das Evangelium in den hedonistischen Sound der Zeit einzuspei­sen, auf Bildschirmen, von Kanzeln und Dächern. Gleichzeitig aber dünne und fade Getränke auszuteilen.

Wie steht es um die christlichen Glaubenserfahrungen? Wo sind die starken, lebensverändernden Begegnungen und Erfah­rungen? Wo ist die Intensität, die ergreift? Jede Spiritualität lebt von intensiver Begegnung. Allerdings ist das Profil der Intensität durchaus ambivalent. Es sind nicht nur und nicht einmal in erster Linie diese Erfahrungen von Wohlsein und Fülle auf den Höhen des Lebens: »Herr, hier ist gut sein.« (Mt 17,4) Es geht auch um die Intensität der Schmerzen, der Finsternis, des Mangels.

Wie eindrücklich sind mir Begegnungen und Gespräche mit traumatisierten Soldatinnen und Soldaten, die darum ringen, die finsteren Momente zurückzuholen in ihr Leben – und, wenn es gelingt, die Erfahrung machen, dass ihr Leben durch die In­tegration des Zerstörerischen reicher und tiefer, jedenfalls un­verwechselbar geworden ist – so wie in den Ostererzählungen des Johannesevangeliums der auferstandene Christus an seinen Wunden erkannt wird. (Joh 20,20.25)

Und trotzdem gehört auch die Verzückung, die Begeisterung dazu, wenn der Heilige Geist Menschen »beruft, sammelt, er­leuchtet, heiligt und bei Jesus Christus erhält« (Kl. Katechismus, Erklärung des 3. Artikels). Allerdings meldet sich schnell die Fra­ge, ob das Evangelium damit nicht ausgeliefert wird an ein Pro­gramm der »Erlebnisgesellschaft«, die ja selbst immer auf der has­tigen Suche nach Intensitäten ist, nach dem »Adrenalin­Kick«, die, wie sie alles andere »kommodifiziert«, auch den Glauben zur Ware auf dem Markt der Erlebnisse macht. Ekklesiologisch heißt das Programm »Eventisierung der Kirche«. Dann doch lieber lang­weilig, oder?

Nun erzählen die Evangelisten, dass schon Jesus sich den Vor­wurf gefallen lassen musste, ein »Fresser und Weinsäufer« zu sein, also so etwas wie ein niedrigschwelliges Erlebnisprogramm anzubieten. Heute wäre man im Milieu der schrumpfenden mit­teleuropäischen Großkirchen schnell bei der Hand mit den kriti­schen Beobachtungen und Bewertungen zur Emotionalisierung des Evangeliums in den im globalen Maßstab nach wie vor rasant wachsenden charismatischen und pfingstlerischen Kirchen und Gemeinschaften.

Eine neuere Arbeit aus der pfingstlichen Theologie fragt aber vollkommen zurecht nach dem, was Wittenberg und Azusa (also der Ursprung der pfingstlichen Erweckung in der Azusa Street Gemeinde am Anfang des 20. Jahrhunderts) miteinander zu tun haben.2 Luthers Theologie des Kreuzes, so schreibt es David

Ob es künftig eine Erneuerung der Kirche gibt, wird entschei­dend davon abhängen, ob diesseits der ekklesialen Strategien und Programme solche geistlichen Wiedergeburten stattfinden, aus denen alle Programme erst als Zweites entwickelt werden können – und dann vielleicht nicht mehr notwendig sind. Dies würde sich auf das einigende Dritte von Wittenberg und Azusa richten.

In der mystischen Tradition heißt es »simul gemitus et rap­tus«3: Der Glaube ist gleichermaßen Seufzen unter der Last des Kreuzes wie Hingerissenwerden in der Erfahrung der Fülle Gottes. Das eine unter den Bedingungen der Endlichkeit nicht ohne das andere. Die Amplituden sind groß, die Ausschläge hoch – nach oben und unten, also keine gleichmütige temperantia, sondern vielmehr Leidenschaft, passio.

Ein besonderes Zeugnis der Leidenschaft ist dieser Einfüh­rung vorangestellt: Der als »Prolog« für ihre Notizbücher, der »Cahiers«, verfasste knappe Text der französisch­jüdischen In­tellektuellen und Mystikerin Simone Weil, 1942 aufgeschrieben, ein Jahr vor ihrem frühen Tod mit 34 Jahren. Der Text schildert eine Szene besonderer Intensität, mit erotischen Untertönen. Eine eucharistische Szene: einzigartiges Brot – und Wein, der den Geschmack der Sonne hat. Der Schlaf, die Sonne, der Ge­schmack, die einzigartige Zweisamkeit im Obergemach. Und ER gibt alles, lehrt aber nichts. Die Szene schließt damit, dass der Liebhaber das Zimmer verlässt, die Frau allein zurückbleibt. Nicht die Lehre bleibt, sondern der Geschmack. Eine Miniatur geistlicher Erfahrung diesseits von Wittenberg und Azusa – ein Jahr später war die Frau tot. Sie ist mit diesem Geschmack ge­storben.

Die Beiträge dieses Heftes gehen diesen mit dem Wein verbun­denen Ambivalenzen geistlicher Erfahrung nach. Wolfgang Vögele eröffnet das Heft, indem er den Wein als Grundnahrungsmittel erläutert und die eucharistische Praxis der Kirche in die Ele­mentarität der Vollzüge des Alltags, diesseits eines liturgisch for­matierten Sakralen, zurückbindet. Karsten Wächter, Pfarrer und Sommelier, beschreibt in seinem Essay die Arbeit des Winzers, die handwerkliche Seite der Weinbereitung und die Freuden der Degustation. Er ermutigt dazu, für die Feier des Heiligen Abend­mahls hochwertigen Wein zu verwenden. Ralf-Dieter Gregorius er­läutert aus seiner Praxis als Pfarrer und aus der Perspektive seiner Arbeit als Sekretär des Arbeitskreises Liturgie der Michaelsbru­derschaft die rechten Tischsitten am Tisch des Herrn – ein wert­voller Beitrag auch zur Einübung in die liturgische Grundhaltung.

Etwas abseits der Thematik dieses Heftes, aber doch auf unter­gründige Weise mit ihr verbunden ist der umfangreiche Aufsatz, den Luca Baschera der bedeutenden priesterlichen und intellek­tuellen Gestalt Ivan Illichs zu dessen 20. Todestag widmet. Illich wird hier als Denker in christlicher Verantwortung beschrieben, der sich dem konstruierenden Geist der Moderne widersetzt und den unverstellten Blick auf die Wirklichkeit in ihrer ganzen Kon­tingenz lehrt – eine Lektion, derer wir gegenwärtig angesichts der Rückkehr des Krieges nach Europa besonders bedürftig sind.

Von Petra Reitz kommt eine Pfingstmeditation, die für das Wir­ken des Heiligen Geistes bereitet in der einprägsamen Formel von »Kernung« und »Weitung«, als Führung in das Eigene, mit aller Hilflosigkeit, und Öffnung in die Weite Gottes hinein.

Zwei Beiträge zum Krieg in der Ukraine bilden, den bedrängen­den Bildern dieser Wochen geschuldet, einen eigenen Abschnitt dieses Heftes. Auch diese Vorgänge, und sie vielleicht besonders, sind dem geistlichen Leben in Gebet und Engagement ja anver­traut. Unser Mitbruder Peter Sachi erinnert sich an sein eigenes Erleben als Gemeindepfarrer in Kiew, Gerhard Arnold steuert einen pointierten Essay zu den Aufgaben gegenwärtiger evangelischer Friedensethik bei.

Die Bilder dieses Heftes kommen wieder von Rolf Gerlach und erzählen eine ganz eigene Geschichte. Rolf Gerlach arbeitet als Lehrer in der »Zonnebos«­Schule in Antwerpen mit beeinträch­tigten Kindern und Jugendlichen. Als ausgebildeter Grafiker hat er in einem Projekt mit seinen Schülerinnen und Schülern Etiket­ten für Weinflaschen entworfen, die dann zum Besten der Schule verkauft wurden. Die Entwürfe der Kinder wurden weiter bearbei­tet und dienen nun der Illustration dieses Quatemberheftes zu Pfingsten. Ein ganz besonderer Dank dafür!

Mit der Bitte »Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott zu un­sern Zeiten« geht dieses Heft nun auf seinen Weg. Eine gesegnete Pfingstzeit, von gutem Wein illuminierte Abende und eine ebenso erhellende Lektüre wünscht

Ihr und Euer Schriftleiter Roger Mielke

  1. Simone Weil, Cahiers. Aufzeichnungen Erster Band. (hrsg. und übers. von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz), München: Carl Hanser 22017, 53.

  2. David J. Courey, What has Wittenberg to do with Azusa? Luther’s Theology of the Cross and Pentecostal Triumphalism, London, New York: Bloomsbury T&T Clark 2016.

  3. Heiko A. Oberman, Simul gemitus et raptus. Luther und die Mystik, in: Ders., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, 45 – 89.

»Des süßen Weinstocks starker Saft«

Theologische Bemerkungen zum Weingenuss beim Abendmahl
von Wolfgang Vögele

 Ein Schluck
»Des süßen Weinstocks starker Saft/ bringt täglich neue Stärk und Kraft/ in seinem schwachen Reise.« In Paul Gerhardts bekanntem Choral »Geh aus mein Herz« (EG 503,6) wird selbstverständlich der Wein besungen, wenn auch ohne Bezug auf das Abendmahl. Schaut man sich andere Abendmahlslieder im Gesangbuch an, so fällt auf, dass Liederdichter viel vom Teilen des Brotes reden und ihre Phantasie davon anregen lassen. Der Wein in seiner symbolischen Dimension wird sträflich vernachlässigt. Weltlicher Lyrik lässt sich das nicht nachsagen. Hölderlins bekannte Hymne

»Brot und Wein« verbindet Jesus von Nazareth mit dem antiken Weingott Dionysos, was theologisch durchaus nicht unproblematisch erscheint. Und Wolf Biermann dichtete, mit deutlichem Bezug auf das Abendmahl: »Ach, Gott, und bist du nichts / als ein Schluck! /– dann komm in meinen Hals!«1 Der Blick auf den Wein gibt dem theologischen Nachdenken über das Abendmahl eine körperliche, praktische und – wegen des Alkohols, der den Wein erst zum berauschenden, festlichen Getränk macht – eine ambivalente Dimension.

Das Abendmahl zählt zu den zentralen liturgischen Vollzügen des Christentums. Seine liturgischen Vollzüge, seine Liturgie, seine theologische Deutung bestimmen die Identität des christlichen, des evangelischen Glaubens. Es zählt zu den sehr unsympathischen Seiten des Protestantismus, dass er gelegentlich mit einer gewissen Rechthaberei einhergeht; sie umgibt die Formulierung theologischer Einsichten wie Bollwerke, Festungsmauern und Gräben das Schloss. Schon beim Marburger Religionsgespräch stritt man über das »est« der Einsetzungsworte, ob es ontologisch oder symbolisch zu verstehen sei. In der Folge konnten die Unterschiede zwischen reformiertem und lutherischem Abendmahlsverständnis nicht genug betont werden; es herrschte eine Hermeneutik des gegenseitigen Ausschlusses. Es war bis zur Leuenberger Konkordie eigentlich nicht möglich, dass reformierte Christen am lutherischen Abendmahl teilnahmen und umgekehrt. Zu den frühen Versuchen, dieses zu ändern, zählte zum Beispiel die Badische Unionsurkunde von 1821, obwohl man sich außerhalb von Baden über die – sicher nicht völlig gelungenen – Kompromissformulierungen des Abendmahlsteils lustig zu machen pflegte. Auch innerhalb Badens wurde der Streit erst Jahrzehnte später beigelegt.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg brach eine Periode evangelisch-konfessioneller Einigung an, die schließlich in der Neubewertung der reformatorischen Unterschiede zwischen den evangelischen Konfessionen Europas in der genannten Leuenberger Konkordie mündete. Nach 1973 – dem Jahr der Verabschiedung der Leuenberger Konkordie – brachen diese Auseinandersetzungen aber keineswegs ab, sie verwandelten sich allerdings von einem Hauptzu einem Nebenthema, auch deshalb, weil man sich in der weltweiten Ökumene darum bemühte, in Fragen des Abendmahls zu einem größeren kirchlichen Konsens zu kommen. Das – weithin unterschätzte – Dokument von Lima 1981 zeichnet sich dadurch aus, dass es verschiedene theologische Perspektiven auf das Mahl nebeneinander stellt: Schöpfungstheologie, Rechtfertigungstheologie, Eschatologie, Pneumatologie. Dieses Dokument basierte auf der hermeneutischen Voraussetzung, dass sich im Nebeneinander der theologischen Perspektiven auch die unterschiedlichen Konfessionen wiederfinden könnten. Die Kirchengeschichte seitdem hat gezeigt, dass man auf dem Weg zu einer gemeinsamen, zwischenkirchlichen Abendmahlsfeier oder mindestens zur gegenseitigen Einladung, noch nicht so weit vorangekommen ist, wie man sich das eigentlich wünschen würde.

Gott im Wein
Man kann zunächst einmal fragen, wieso das Abendmahl so viel innertheologischen Streit – um nicht zu sagen: Rechthaberei – hervorgerufen hat. Nach meiner Ansicht liegt die Antwort auf diese Frage darin, dass sich am Abendmahl (und seiner liturgischen Gestaltung) das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens entscheidet. Theologie und Liturgie des Abendmahls setzen eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit und der Gegenwart Gottes in der Welt voraus, die sämtliche anderen Bereiche von Dogmatik, Ethik und täglicher Glaubenspraxis bestimmt.2 Insofern haben die theologischen Rechthaber etwas Richtiges getroffen, denn sie verteidigen intuitiv das Zentrum.

Die Frage nach dem Dreh und Angelpunkt christlichen Glaubens lässt allerdings auch andere Antworten zu. Bekanntlich hat Gerhard Ebeling seine »Dogmatik des christlichen Glaubens« aus der Praxis des Gebets entfaltet.3 Das ist daraus zu erklären, dass er sich besonders für das Sprachgeschehen des Glaubens interessierte. Wer nun anders als Ebeling die liturgische Mahlfeier in den Mittelpunkt stellt, der entwickelt damit keine Gegenthese zu Ebeling, sondern legt den Akzent stärker auf die Gegenwart Gottes und auf das antwortende Handeln (nicht nur Sprechen) der Menschen. Neben dem Beten werden Aspekte der Buße, der Gemeinschaft, des Singens und der Glaubensstärkung relevant. Es ist hier nicht der Raum, die Entfaltung einer Glaubenslehre aus der Abendmahlsfeier zu entwickeln. Ich will mich auf einen einzigen Aspekt beschränken.

Speis und Trank
Verglichen mit der Mahlpraxis des Neuen Testaments zeigt die jüngere Diskussion um das Abendmahl seit dem Zweiten Weltkrieg die Prozesse einer stärkeren Theologisierung und Liturgisierung. Auch die ökumenischen Beiträge konzentrieren sich in der Regel darauf, auf welche Weise Gott in Brot und Wein gegenwärtig ist. Um dabei angeblich falsche Traditionsbildungen zu vermeiden, sind die christliche Mahlzeit (im Sinne einer Agapefeier) und die liturgische Feier des Abendmahls immer stärker voneinander getrennt worden – im Gegensatz zur neutestamentlichen Praxis. Diese sehr starke Trennung diente dem Zweck, die vermeintlich metaphysische Anwesenheit Gottes in Brot und Wein zu retten, während der Aspekt der alltagsbezogenen Mahlzeit immer stärker in den Hintergrund trat. Brot und Wein sind als solche, als Lebensmittel, theologisch nicht mehr von richtiger Bedeutung. Von Bedeutung ist allein der Aspekt der Art und Weise göttlicher Gegenwart, auch wenn die Leuenberger Konkordie ausdrücklich vor dem Versuch warnte, allzu genau und grüblerisch über diesen Modus göttlicher Präsenz nachzudenken.

Die These soll lauten: In der Wiederentdeckung von Essen und Trinken als (all-)täglichen, lebensnotwendigen Vorgängen gewinnt auch die liturgische Feier des Abendmahls eine neue Erschließungskraft für den Glauben. Es könnte sich als ein Fehler erweisen, Liturgie und Nahrungsaufnahme zu stark voneinander getrennt zu haben. In der Vergangenheit hat das zu einer einseitigen und letztlich unfruchtbaren Konzentration auf die Frage nach dem Modus der Gegenwart Gottes in Brot und Wein geführt.

Die Theologisierung von Brot und Wein hat den Alltag aus der gottesdienstlichen Feier verdrängt. Eine theologische Gegenstrategie will ich in diesem Essay am Beispiel des Weines verfolgen. Dabei sollen biblische, konfessionsspezifische, liturgische, dogmatische und literarische Aspekte miteinander bedacht werden.

Der Bund im Blut
Im alten Israel gehörte Wein, stets Rotwein, neben Wasser und Milch zu den Basisgetränken4, die alltägliche Mahlzeiten, besonders aber Feste begleiteten. Weinberge, Weinreben, das Keltern der Trauben, die Aufbewahrung des Weins in Krügen oder Schläuchen zählten zu den wichtigen agrarischen Vollzügen alltäglicher Lebenswelt. Diese wurden immer wieder theologisch und symbolisch verarbeitet. Das Verhältnis zwischen Gott und Israel wurde im Bild von Winzer und Weinberg gedacht. Gott wurde im Schöpfungspsalm 104 als Stifter und Schöpfer von Brot und Wein gepriesen: »(…) dass du Brot aus der Erde hervorbringst, / dass der Wein erfreue des Menschen Herz (…).« (Ps 104,14b–15) Nicht zufällig stehen schon hier Brot und Wein, deren Verbindung die Abendmahlsfeier bestimmt, nebeneinander. Schon im Alten Testament wird der Wein für seine belebende Kraft gelobt, aber auch vor seinem Missbrauch in Gelage und Besäufnis (Jes 56,11 f.) gewarnt. Weisheit rät zur Mäßigung beim Wein: »Sieh den Wein nicht an, wie er so rot ist und im Glase so schön steht: Er geht glatt ein, aber danach beißt er wie eine Schlange und sticht wie eine Otter.« (Spr 23,30 f.)

Im Neuen Testament wird diese Tradition aufgenommen. Gerade im Johannesevangelium, das die erste Abendmahlsfeier Jesu gar nicht erzählt, beginnt Jesu öffentliche Wirksamkeit mit dem Wunder bei der Hochzeit von Kana (Joh 2,1–11): Jesus verwandelt Wasser in besonders hochwertigen Wein. Und später, in den Abschiedsreden bezeichnet sich Jesus als Weinstock (Joh 15,1 ff.):

»Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.« (Joh 15,5) Hier redet Jesus symbolisch über den Wein, und das hat die biblische Tradition der Weingeschichten, aber eben auch die alltägliche Gewohnheit des Weingenusses zur Voraussetzung. Den Zuhörern ist das symbolische und das semantische Feld des Weins vertraut, und sie wissen auch, dass der im Übermaß genossene Wein zum Verlust lebenspraktischer Selbststeuerung (Lallen und Schwanken) führt.

Die beiden im evangelischen Christentum praktizierten Sakramente Taufe und Abendmahl beziehen sich zentral auf Grundnahrungsmittel: Wasser, Brot und Wein. Paulus und die Synoptiker geben nun die Einsetzungsworte wieder, die den Wein in besonderer Weise mit dem Blut Christi verknüpfen: »Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.« (1Kor 11,25)

Beiderlei Gestalt
Während der Reformation zählte es Philipp Melanchthon zu den Kontroversthemen, die die Evangelischen an der Papstkirche kritisierten, dass die traditionell katholische Seite den Gläubigen nur die Oblate zugestand, während das Trinken des Weins dem Priester vorbehalten war. Diesen Missstand rief er in der Confessio Augustana (CA 22) sogar als erstes und vorrangiges Kontroversthema auf. Und er kann sich gut biblisch auf eine Reihe von Belegen berufen, in denen Jüngern und Gemeindegliedern der Urgemeinden stets Brot und Wein gereicht wurden.

Und fünf Jahrhunderte später ist es auch in der katholischen Kirche wieder üblich, Brot und Wein zu reichen, mindestens eine in den Wein eingetauchte Oblate. Die Beseitigung des Missstands deutet auf eine Entwicklung, an deren Anfang im Mittelalter die Gläubigen den beiden Gestalten des Sakraments nur mit übergroßer Ehrfurcht begegneten. Man wollte den Leib Christi nicht zerkrümeln und das Blut des Herrn nicht verschütten, während in der Moderne, im Protestantismus seit den siebziger Jahren mit dem Feierabendmahl, ein großer Schritt zur Neuentdeckung des Abendmahls und zu seiner Feier in regelmäßig sonntäglicher Frequenz getan wurde. Trotz der Verabschiedung von Liturgien für Agapefeiern konnte sich die praktische Verbindung von Liturgie und Mahlzeit jedoch nicht richtig durchsetzen, was daran gelegen haben mag, dass ihr die dogmatische Reflexion über Gottes Präsenz in Brot und Wein stets in die Quere kam. Um praktische Fragen wollte sich die Dogmatik nicht kümmern. Das überließ man – leider – den Kirchendienern, Mesnern und Sakristanen.

Qualitätswein ohne Zusätze
Die katholische Kirche hat ihre Bestimmungen über Messwein mehrfach an die Gegebenheiten angepasst. Schon im Mittelalter wurde neben dem Rotwein auch Weißwein zugelassen. Die Kirche verlangte einen natürlichen Wein ohne jegliche fremde Zusätze (Aromen, Zucker, man denke an das berüchtigte Glykol), und man approbierte zu diesem Zweck bestimmte Winzer als Messweinlieferanten. Nach den neuesten Bestimmungen muss der Messwein mindestens ein Qualitätswein sein, zu dessen Bedingungen es schon von Rechts wegen gehört, dass ihm keine Zusatzstoffe hinzugefügt werden.

In der evangelischen Kirche bürgerte sich ein, zu bestimmten Gelegenheiten statt Wein auch Traubensaft anzubieten, um alkoholkranke Menschen vor der Gefahr des Rückfalls zu bewahren. Der Gebrauch von Traubensaft ermöglichte es im übrigen auch Kindern, am Abendmahl teilzunehmen, was die Landeskirchen mittlerweile unter bestimmten Bedingungen, die leicht variieren, überall gestatten. Wenn man allerdings anfängt, unter den Teilnehmern des Abendmahls zwischen denen zu differenzieren, die keinen Alkohol trinken dürfen, und denen, denen es gestattet ist, dann führt man plötzlich Differenzierungen ein, die dem Communio-Charakter des Abendmahls zuwiderlaufen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn »Trinkstationen« eingerichtet werden, an denen im einen Fall Wein, im anderen Fall Traubensaft gereicht wird.

Wenn sich Pfarrer und Ältestenkreis nicht um Wein und Brot gekümmert haben, hat gelegentlich der lokalpatriotische Kirchendiener die Praxis eingeführt, den Abendmahlswein stets von einem lokalen Winzer (Riesling an der Mosel, Gutedel im Südbadischen, Dornfelder in der Pfalz) oder gar vom Weingut des Patronatsherrn zu bestellen. Denn der Gebrauch des Weines beim Gottesdienst adelt ja auch indirekt den Lieferanten. Aber das ist eine Praxis, die der Feier ein wenig Lokalkolorit hinzufügt, theologisch jedoch ohne Aussagekraft bleibt. Die Weinlieferungen für den Abendmahlsgottesdienst sind ein Adiaphoron. Theologisch rückt anderes in den Mittelpunkt.

Alkoholische Nüchternheit
Ich nehme zwei theologische Thesen wieder auf, zum einen die Beobachtung einer Verengung der theologischen Diskussion über das Abendmahl auf die Frage nach dem »Wie« der Präsenz Gottes in Brot und Wein, zum anderen Ebelings Grundentscheidung, die Dogmatik aus der Gebetspraxis zu entwickeln.

Diese Grundentscheidung hatte den großen Vorteil, Dogmatik und Glaubenspraxis unmittelbar miteinander verknüpfen zu können. Wer Gott ist und wie er sich zeigt, erfährt der Glaubende im Gebet. Dem wäre allerdings eine zweite Grundentscheidung nicht ersetzend, sondern ergänzend an die Seite zu erstellen, nämlich die Dogmatik, speziell die Lehre von Gott, aus der liturgischen Praxis des Abendmahls zu entwickeln. Denn wie beim Gebet geht es ja bei der Mahlfeier um eine spezifische Weise, Gott zu begegnen. Und es unterscheidet das Gebet vom Abendmahl, dass letzteres grundsätzlich in einer Gemeinschaft von Glaubenden gefeiert wird. Dabei kann die Praxis des Abendmahls nicht zu einer theologischen Metaphysik der Anwesenheit Gottes in der Welt führen. Diese verbleibt auch beim Abendmahl im Bereich des unerschließbaren Glaubensgeheimnisses. Dem Abendmahl eignet definitiv ein Moment der Performanz, von menschlicher liturgischer Gestaltung. Aber genau dieses Miteinander von menschlicher Gestaltung und Glaubensgeheimnis scheint mir von Belang. Gottes Anwesenheit ereignet sich in, mit und unter dem Handeln von Menschen.

Denn es geht hier um eine religiöse Erfahrung, die die Begegnung mit Gott nicht im Außergewöhnlichen oder im Rückzug aus der Welt sucht, sondern um eine Gotteserfahrung im Alltag und Sonntag. Meditation, Mystik, die Suche nach Erleuchtung, Ekstase, Enthusiasmus, Pilgern zielen alle auf einen Rückzug aus der Welt oder dem Alltag. In diesen Praktiken wird durch Entweltlichung die Wahrscheinlichkeit der Präsenz Gottes vorgeblich erhöht. Im Abendmahl geschieht genau das Umgekehrte. Die Liturgie geistlichen Feierns grenzt sich zwar von der Lebenswelt des Alltags ab, genauso sehr ist sie aber untrennbar auf diesen Alltag bezogen. Das macht den Unterschied von religiöser Erfahrung aus, die sich auf das Außergewöhnliche kapriziert. Und der Wein ist neben dem Brot eines der alltäglichen Elemente, die sowohl auf die geheimnisvolle Präsenz Gottes wie auf die Lebenswelt des Alltags verweisen.

Ich würde sagen: Genau darin besteht die theologische Pointe. Und sie ließe sich noch verstärken, wenn die Aspekte des Essens und Trinkens in der Mahlfeier liturgisch wieder ernster genommen würden. In einer bestimmten theologischen Zuspitzung sind Brot und Wein nicht mehr Lebensmittel, sondern nur noch Träger von Gottes Gegenwart. Diese Ausschließlichkeit aber zielt an der Sache vorbei, ihren Kern findet sie gerade in der Vermittlung von Glaubensgrund und Lebensmittel. Eine zu starke, ins Extrem getriebene Theologisierung tut der Mahlfeier nicht gut, denn sie bedeutet eine Exzeptionalisierung der Gegenwart Gottes, die gerade nicht gemeint sein kann.

In der Perspektive evangelischer Theologie macht Glaube nur Sinn, wenn er nicht auf das Exzeptionelle, sondern auf das Alltägliche bezogen ist. Und die Liturgie der Mahlfeier, wie sie seit der Reformation weiterentwickelt wurde, zielt genau auf diese Alltäglichkeit des Glaubens. Dieses Moment könnte noch weiter verstärkt werden, durch eine Betonung von Essen und Trinken. Das Neue Testament zeigt, wie regelmäßig sich Jesus von Nazareth bei Zöllnern, Sündern, Prostituierten, bei den Verachteten der Gesellschaft zum Mahl, sogar zum Festmahl eingeladen hat. Auch das wäre in einer erneuerten Abendmahlspraxis aufzugreifen, durch eine völlige Befreiung der Liturgie von allen Maßnahmen der Kirchenzucht. Es darf in dieser Perspektive nicht sein, dass das Abendmahl nur den Glaubenden vorbehalten ist. Die evangelischen Kirchen sind schon den ökumenisch wichtigen Schritt gegangen, dass sie Glaubende aller Kirchen zum Abendmahl einladen.5 Dem sollte als nächster Schritt noch folgen, dass alle, die am Gottesdienst teilnehmen, zum Mahl eingeladen werden, auch diejenigen, die nicht getauft sind oder keiner Kirche angehören. Das Abendmahl würde sich so auch in eine missionarische Gelegenheit verwandeln, die zeigt, aus welcher Glaubenskraft eine Gemeinde lebt.

In Christus trinken und essen alle gemeinsam. Mit Hilfe des Weins gewinnt die Abendmahlsfeier so ihren spezifisch theologischen Charakter. Sie befreit nicht von der Welt und aus der Welt, sondern sie gibt in der geglaubten Gegenwart Gottes einen Vorgeschmack auf das kommende Reich, welche dann in der Verschränkung von Zukunft und Gegenwart die Glaubenden durch das Elend der Welt trägt. Diese Form der Gottesbegegnung im Abendmahl lebt nicht aus einer ontologisch-metaphysisch verstandenen Wandlung von Substanzen, sondern aus einer bestimmten Pneumatologie, die eben nicht nur den Gottesdienst, sondern auch den Alltag bestimmt, der diesem sonntäglichen Gottesdienst folgt.

In der Moderne ist diese Form, von Gottes Gegenwart zu reden und sie symbolisch zu »behandeln«, nicht unproblematisch. Eher redet man von der Abwesenheit Gottes oder der Götter, wie schon Hölderlin in seiner Hymne »Brot und Wein«: »Aber Freund! wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter, / Aber über dem Haupt droben in anderer Welt. / Endlos wirken sie da und scheinens wenig zu achten, / Ob wir leben, so sehr schonen die Himmlischen uns. / Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen, / Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.«6 Aber theologisch vermag Hölderlins Versuch einer Symbiose zwischen Antike und Christentum, zwischen dem Erlöser Jesus von Nazareth und dem Weingott Dionysos, nicht so richtig zu überzeugen. In solchen Abendmahlsfeiern trinken die Glaubenden wohlgemerkt nur einen Schluck Wein. Auch dieses kennzeichnet die Pragmatik und die – im wahren Sinne des Wortes – vorsichtige Nüchternheit des Protestantismus. Die Literatur ist voll von Beispielen, in denen sich Menschen mit Hilfe von Wein, Wodka und Whisky um Kopf und Kragen trinken. Man denke an den Konsul Geoffrey Firmin aus Malcolm Lowrys Roman »Unter dem Vulkan«7, der sich, abgeschoben auf einen einsamen Außenposten in Mexiko, aus einer elenden, langweiligen, verregneten und undurchsichtigen Welt vermeintlich in den Alkohol rettet, um zu ertragen, was nicht mehr zu ertragen ist. Der Trinker scheitert, weil er im Delirium den Dschungel der Welt nicht mehr wahrnehmen kann. Genau zu dieser Verbindung aus Weltflucht, Resignation und Nihilismus bieten die Mahlfeier, aber auch der Glaube als solcher einen Gegenentwurf, der in der Gemeinde stets neu liturgisch zu gestalten ist.

Die Elemente Brot und Wein sind nicht, wie Ignatius von Antiochia meinte, phármakon athanasías, Heilmittel zur Unsterblichkeit, sondern Grundnahrungsmittel, um im Angesicht Gottes das Leben in seinen Freuden, aber auch in seinem Leiden und seinen Schwierigkeiten zu bewältigen. Brot und Wein sind nicht Götterspeisen, Nektar und Ambrosia, sondern schlichte Wegzehrung.

 

PD Dr. Wolfgang Vögele, geb. 1962, ist Pfarrer der Ev. Landeskirche in Baden sowie Privatdozent für Systematische Theologie/Ethik in Heidelberg. Von ihm stammen zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Schach in Gelee. Fallstudien zur Öffentlichen Theologie, Münster 2022. Blog »Glauben und Verstehen« unter www.wolfgangvoegele. wordpress.com.

 

  1. Wolf Biermann, Gebet eines Roma im Barrio Portugalete (1977), in: ders., Mensch Gott!, Berlin 2021, 105.
  2. Wolfgang Vögele, Brot und Wein. Gegenwärtige Abendmahlspraxis und ihre theologische Deutung, in: ders., Kirchenkritik. Beiträge zu Kirchentheorie, praktischer und ökumenischer Theologie, KirchenZukunft konkret 12, Münster u. a. 2019, 269 – 361.
  3. Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Tübingen 1979.
  4. Jakob Wöhrle, Art. Getränke (AT), Wibilex Nov. 2008, https://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/19484/.
  5. Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Abendmahl – Glauben für die Welt öffnen. Chancen der gegenwärtigen Veränderungen in Theologie und Praxis des Abendmahls, in: Liturgische Kommission der Evangelischen Landeskirche in Baden (Hg.), Zu Tisch! Anregungen zum Abendmahl, Karlsruhe 2020, 8 – 14.
  6. Friedrich Hölderlin, Brot und Wein, 1800 – 1801, Strophe 7.
  7. Malcolm Lowry, Unter dem Vulkan, Reinbek 1988 (engl. 1947).

 

Brot und Wein beim Abendmahl – was nehme ich da eigentlich zu mir?

von Karsten Wächter

In Gemeinschaft Brot und Wein miteinander zu teilen und sich dabei das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern zu vergegenwär­tigen, das sind heilige Momente: Erfahrungsräume für die Nähe Gottes, die zugleich sinnenhaft leiblich erlebt werden. Denn das macht ein Sakrament ja nach evangelischem Verständnis aus: das Zusammenkommen eines materiellen Elementes mit einem Auftrag Jesu. Aber wie sehr darf es eigentlich in der spirituellen Praxis um den Wein als solchen gehen?

Eigentlich sind Brot und Wein Brücke zu etwas Größerem: zur Nähe Gottes. Die christlichen Konfessionen haben unterschied­liche Deutungswege gefunden, wie diese Nähe zu verstehen ist: Transsubstantiation, Konsubstantiation, Symbol. Im Letzten geht es immer um Christi Blut, um den Kelch des Heils und der Freude – der Wein als solcher spielt doch eigentlich keine Rolle, oder?

Höchstens bei der Frage: Weiß oder rot? Ein katholischer Pries­ter hat mir auf meine Frage, warum in der Messe weißer Wein be­nutzt wird, eine ganz profane Antwort gegeben: Wegen der Fle­cken in der Tischwäsche.

Ist es also völlig egal, welches Brot und welchen Wein man zum Abendmahl verwendet?

Dazu habe ich zwei Erfahrungen gemacht, die mich eines an­deren belehrt haben:

Die Erste: Bei den »Familienrüstzeiten«, die ich als Militär­pfarrer durchgeführt habe, wird sonntags immer ein Abend­mahlsgottesdienst gefeiert. Aus verschiedenen Gründen habe ich die Form der Intinctio verwendet: Die Teilnehmenden haben das empfangene Brot in den Kelch eingetunkt. Es hat 5 Jahre ge­dauert, bis ich zufällig abends von einem Teilnehmer bei einem Thekengespräch erfuhr, dass es für ihn nicht leicht sei, das zu sich zu nehmen, denn es sei so bitter. – Die Säure des Sauerteiges hat mit der Säure des trockenen Rieslings reagiert. Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Denn eigentlich sollte in meinen Augen die spirituelle Erfahrung der heilenden, versöhnenden Nähe Gottes, die ja etwas Schönes ist, eine Entsprechung im leiblichen Schme­cken von Brot und Wein haben. Meine Absicht war es, die völlig geschmacklosen, am Gaumen klebenden Oblaten, durch frisch­gebackenes Bauernbrot zu ersetzen. Aber diese Kombination war nicht hilfreich, sie wurde zu einer unangenehmen Erfahrung. Damit hatte ich unwissentlich ein Hindernis eingebaut, um eine gute Erfahrung zu machen. Ich selbst hatte es nicht bemerkt, weil ich zum Schluss immer gemeinsam mit den Assistierenden Brot gegessen und danach den Wein aus dem Kelch getrunken habe – so konnten Brot und Wein nicht miteinander reagieren.

Dies war mir eine Lehre, sehr wohl darauf zu achten, welches Brot und welchen Wein ich für das Abendmahl verwende.

Die zweite Erfahrung war eher beiläufig: Wenn wir nach dem Gottesdienst in der Sakristei die Reste aus den Kelchen getrun­ken haben, habe ich eigentlich nie gespürt: Hmm, der ist aber lecker. – Hinzu kam später eine Information, die mir ein Freund gab: »Der Wein, den ihr geliefert bekommt«, – bei der Militärseel­sorge wird der Wein dienstlich beschafft und hat sogar eine Ver­sorgungsnummer – »ist einfache Massenware aus der Pfalz«. Das hat durchaus die Frage in mir ausgelöst: Ist es angemessen, zu sparen, wenn es doch um etwas ganz Wichtiges geht?

Nun lebe ich seit 8 Jahren an der Ahr, dem »Tal der roten Trau­be«. Seit einiger Zeit darf ich einen Menschen zu meinen guten Freunden zählen, der nicht nur Sommelier ist, sondern auch Som­meliers ausbildet – es war nur eine Frage der Zeit, bis ich das erste Seminar bei ihm besucht habe. Meine Kenntnis über Wein hat sich in der Zwischenzeit etwas ausdifferenziert. Ich habe die Vielfalt, die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Weine und Rebsorten kennengelernt, die vielen Möglichkeiten, die ein Winzer bei der Weinbereitung hat, und auch, wie viel Wissen und Arbeit dahin­tersteckt.

Dabei ist mir klar geworden: Wein ist ein Wunder der Schöp­fung, aus dem der Winzer mit seinem Wissen und seiner Erfahrung ein Meisterwerk herstellt.

Über 30 Mal muss bei uns ein Winzer in den Weinberg gehen, bis die Ernte in den Keller kommt. Und im Weinkeller hört die Ar­beit ja nicht auf. Ein befreundeter Winzer erzählte mir, dass er in der Gärzeit im Keller schläft, um den Prozess zu überwachen. Es ist ein feines Spiel mit der Hefe, den Temperaturen – das könne er einfach nicht einem Computer überlassen. Man kann sagen, dass in doppelter Weise Liebe und Herzblut im Wein stecken: Die des Schöpfers und die des Winzers.

Dieses Wunder kann man riechen und schmecken! Im Wein kann einem eine unglaubliche Vielfalt an Aromen und Düften be­gegnen. Alle Früchte sind hier je nach Sorte und Herstellungsver­fahren zu entdecken: Zitrone, Limette, Grapefruit, Apfel, Birne, Pfirsich, Maracuja; Erdbeere, Kirsche, Johannisbeeren, dunkle Früchte oder sogar Cassis. Blumen, Blüten, Kräuter: Veilchen, Ro­sen, Jasmin, Holunder, Rosmarin, Wacholder. Dann Schokolade, Tabak, Zigarrenkiste. Bisquit, Buttriges, Honig, bis zu Leder, Erde oder gar Fleisch. Bei der Verkostung eines Barberas – ein Wein aus dem Piemont – schmeckten wir ein deutliches Kirscharoma. Eine Teilnehmerin fragte ganz naiv: »Ist da jetzt Kirschsaft mit drin?« – Nein, natürlich nicht. Es ist diese spezielle Rebsorte und die Kunst des Winzers, die dieses Aroma hervorbringen.

Hinzu kommt ein immer wieder spannendes Zusammenspiel von Säure und Süße – und wenn ein Wein im Holzfass gelegen hat, die Gerbstoffe. Und natürlich der Alkohol. In diesem Zusammen­spiel kommt die Rebsorte, das Klima, die Beschaffenheit des Bo­dens, die Lage, die Technik der Verarbeitung im Keller und zuletzt die Art der Lagerung zusammen.

Für mich ist die Entdeckung des Charakters eines Weines mitt­lerweile eine große Quelle der Freude, des Staunens und der Ehr­furcht.

Man braucht für diese Entdeckungsreisen nicht viel: nur ein wenig Schulung, Übung, und Neugier. Man braucht Zeit und Muße. Wein zu genießen, das geht nicht im Vorübergehen, so nebenbei, oder in Hektik und Stress.

Damit der Wein seine Aromen entfalten kann, sollte ein rich­tiges Weinglas eigentlich nicht mehr als zu einem Viertel gefüllt sein. Ein volles Glas – das lädt dazu ein viel zu trinken, das ganze runterzukippen. Beiläufig. Damit der Rausch sich einstellt – und ich meine Sorgen ertränken kann – für eine Zeit. Damit habe ich den Wein benutzt als Mittel zum Zweck. Dafür genügt auch ein günstiger Massenwein aus ganz Deutschland, Frankreich sonst woher. Guter Wein braucht genau das Gegenteil, wenn man ihm wirklich begegnen will: wache Aufmerksamkeit.

Und eigentlich braucht man auch Gesellschaft. Wenn ich an Wein denke, dann eigentlich immer im Zusammenhang mit Ge­sprächen: fröhlichen, tiefen, ehrlichen Gesprächen, bei denen ich meinen Tischgenossen näherkomme. Natürlich löst der Wein auch ein wenig die Zunge und das Herz. Und ich kann eigentlich nicht hart und gemein sein, wenn ich einen guten Wein trinke. Und ich möchte fast behaupten: Ich will auch nicht länger verschlossen, vorsichtig, verzagt bleiben.

Natürlich ist das Abendmahl keine Weinverkostung. Und ich kann auch schlecht im Rahmen der Liturgie anfangen, den Cha­rakter und die Herkunft des Weines zu beschreiben, den wir gleich im Kelch haben. Das wäre absurd. Aber es gibt der Praxis der Abendmahlsfeier neue Aspekte, Kontakt zu einem guten Win­zer zu pflegen.

So ziehe ich folgende Schlüsse:

  1. Wenn es in unserer Frömmigkeit beim Abendmahl um einen der wichtigsten, heiligsten Momente der Begegnung und Erfahrung mit den Zusagen Gottes geht, ist es eine Diskrepanz, wenn ich den Elementen keine Beachtung schenke und ihnen keinen Wert zumesse. Gottes heilsame Gegenwart muss gut schmecken!
  2. Wein als solcher ist eine Schöpfungsgabe und ein Produkt menschlicher Hingabe, menschlichen Könnens, Leidens, und Wissens. Wein als solcher verdient schon Respekt, Demut, Acht­samkeit. Wein als solcher kann damit eine Botschaft für die Schönheit, Fülle und Freude sein, die Gott uns schenken möchte.
  3. Das Geheimnis eines Weines zu erkunden, setzt die gleiche Haltung voraus wie die Begegnung mit Gott: Ich brauche Ge­duld, Muße, Zeit, Achtsamkeit und Offenheit, etwas auf mich wirken zu lassen.
  4. Wie beim Weinverkosten spielt im Abendmahl die Gemeinschaft eine wichtige Rolle. Die angemessenste Form wäre es daher ei­gentlich, gemeinsam am Tisch zu sitzen und Zeit zu haben, auch für Gespräch und Austausch, nicht nur über das Evangelium, sondern auch über die eigenen Lasten, Nöte und Freuden, und das gemeinsame Gebet. In der evangelischen Praxis, gemein­sam um den Altar zu stehen, sich auch die Hände zu reichen, lässt sich Gemeinschaft ansatzweise erfahren. Was dem eigent­lich entgegensteht, ist die Form des Prozessions­Abendmahls, wenn alle in einer Reihe stehen und jeder für sich ein Stück Brot und einen Schluck aus dem Kelch bekommt. Massenabfertigung und Abendmahl ist nur schwer zusammenzubringen.
  5. Auch der Aspekt der Vergebung kann sich in gewisser Weise durch den gemeinsamen Genuss von Wein als solchem ereig­nen: Wenn ich etwas Gutes zu mir nehme und sich ein Gefühl von Dankbarkeit und Wohligkeit einstellt, kann ich gelöster werden und den Raum finden, auch Dinge auszusprechen, die dunkel, unerlöst, schuldbehaftet sind. Dies kann erfahrbar werden vor der Zusage, dass im Teilen von Brot und Wein, Leib und Blut Christi, Erlösung und Vergebung vermittelt werden.

Fazit: Im Umgang mit Wein stecken viele Analogien zum geist­lichen Geschehen im Abendmahl. Die Bedeutung guten Weines zu missachten, kann das tiefere Verständnis für das Abendmahl behindern oder konterkarieren.

Karsten Wächter, geb. 1964, war Pastor im »Haus der Stille« der Ev. Kir­che im Rheinland in Rengsdorf und Gemeindepfarrer in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Gegenwärtig ist er Militärdekan im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe in Bonn (Ev. Militärpfarramt Bonn).

 

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